Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR
Krawalle in Ägypten
Der Staat zerfällt
CARSTEN HEIL
Geschrieben am 02-02-2012 |
Bielefeld (ots) - Was ist los in Ägypten? Das, was in fast allen
Revolutionen los ist. Wenn das staatliche Gefüge aus den Fugen gerät,
niemand mehr die Übersicht hat und unterschiedliche Interessengruppen
versuchen, sich auf Kosten anderer durchzusetzen, ist Mord und
Totschlag die Folge. So wie am Mittwochabend im Fußballstadion von
Port Said, wo bei Krawallen mehr als 70 Menschen getötet wurden und
hunderte verletzt, viele davon schwer. Auch am Tag nach dem Horror
gab es gestern keine echten Erkenntnisse über Ursachen und
Hintergründe der Massenhatz, nur Spekulationen und Gerüchte. Auch das
gehört zum Wesen von Revolutionen. Jede der um die Macht ringenden
Parteien in Kairo versucht den Massenmord für die eigenen Ziele zu
instrumentalisieren. Die Machthaber aus den Reihen der Militärs
schoben den Revolutionären die Schuld zu. Das kann schon deshalb kaum
richtig sein, weil die meisten Opfer Ultra-Fans des Clubs Al Ahly
waren, die die Revolution unterstützt hatten. Die mächtigen
Muslimbrüder, die die Wahl gewonnen haben, sehen die Verantwortung
bei den alten Mubarak-Anhängern. Auch das ist Spekulation. Sicher ist
nur, dass die Sicherheitskräfte auf ganzer Linie versagt haben.
Warum? Auch das ist offen. Möglicherweise aus Überforderung,
vielleicht aber auch absichtlich, um Unruhe zu schüren und den
Übergang in eine friedliche Demokratie zu verhindern. Vieles deutet
darauf hin. Der demokratische Prozess ist weiter weg als jemals
zuvor. Schlimmes ist für die Zukunft Ägyptens zu befürchten. Anders,
als es in funktionierenden Gesellschaften der Fall wäre, sind in dem
nordafrikanischen Land nicht alle gesellschaftlichen Kräfte nach
dieser Katastrophe zusammengerückt. Nichts ist bekannt von einem
gemeinsamen Aufruf zu Gewaltverzicht. Die Gefahr ist groß, dass
Ägypten zumindest vorübergehend in Chaos und Gewalt versinkt. Denn
neben der Gewalt in Fußballstadien, die in diesem Fall wohl politisch
motiviert ist, aber schon seit langem in etwas schwächerer Form an
der Tagesordnung, bekriegen sich religiöse Gruppen. Außerdem nimmt
die schlichte kriminelle Gewalt zu. Der Zerfall des Staates ist kaum
noch aufzuhalten. Gleichzeitig sinkt das Bruttoinlandsprodukt. Der
Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor liegt am Boden. Wenn zu den
politischen Unruhen noch Brotunruhen und materielle Verteilungskämpfe
kommen, geht das Land schweren Zeiten entgegen.
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