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DER STANDARD-Kommentar "Russland als seine eigene Geisel" von Josef Kirchengast

Geschrieben am 05-03-2012

Putin könnte seinen Wahlsieg für einen Umbau des Landes nutzen
- wenn er könnte

Wien (ots) - Russland ist ein Spiel der Natur, aber nicht des
Verstandes." Ein Blick auf die Weltkarte genügt, um zu erahnen, dass
diese Diagnose aus Dostojewskis Dämonen ihre Berechtigung hat. Neun
Zeitzonen, alle Klimazonen der Erde außer den Tropen, rund hundert
verschiedene Völker und Nationalitäten: Ist so ein Land regierbar?
Nur auf meine Art, sagt Wladimir Putin. Eine deutliche Mehrheit der
Russinnen und Russen scheint noch immer seiner Meinung, auch wenn die
offiziell knapp 64 Prozent angesichts der glaubhaften
Manipulationsvorwürfe nicht den tatsächlichen Wählerwillen
widerspiegeln. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen - abgesehen vom
prophylaktischen Aussieben der Kandidaten -, dann müsste sich Putin
höchstwahrscheinlich einer Stichwahl gegen Kommunistenchef Gennadi
Sjuganow stellen.
Das wollte der Kreml auf jeden Fall verhindern. Denn dann wäre noch
augenscheinlicher geworden, dass zwischen den Programmen des
Lenin-Bewunderers Sjuganow und des ehemaligen KGB-Offiziers und
Ex-Geheimdienstchefs Putin wenig Unterschied besteht: ein mächtiger
zentralistischer Staat, der die Wirtschaft dirigiert und die Bürger
mit Sozialleistungen ruhig stellt, ein Russland, das wieder als
Großmacht auftritt und seine Interessen noch stärker vertritt als
bisher.
Dieses Modell funktionierte bisher vor allem wegen der sprudelnden
Öl- und Gaseinnahmen. Sie erlauben es dem Kreml, die Gruppen zu
versorgen, auf die er sich stützt: Bürokraten, Angehörige von
Polizei, Justiz, Militär und Geheimdiensten, Staatsangestellte im
Bildungs- und Gesundheitssystem, Beschäftigte der Rüstungsindustrie
und schließlich der große Brocken von rund 37 Millionen Pensionisten.
Man hat errechnet, dass diese Gruppen zusammen fast 60 Prozent der
Wahlberechtigten ausmachen.
Auch wenn sie im Einzelfall mit ihren Lebensumständen hadern mögen:
Solange diese Menschen pünktlich Gehälter und Pensionen bekommen,
sind sie an politischer Veränderung nicht interessiert. Putin steht
ihnen für Stabilität und Berechenbarkeit, Demokratie bedeutet in
Erinnerung an die Wirren der Jelzin-Zeit eine gefährliche Drohung.
Putin nutzte die tiefverwurzelte Angst vor Chaos, Anarchie und
Bürgerkrieg geschickt aus, indem er die Massenproteste in vielen
Großstädten als Ansätze einer neuen Revolution denunzierte.
Das hat bei einer Mehrheit offenbar verfangen. In der "kreativen
Mittelschicht" aber, die nach der gefälschten Duma-Wahl vom Dezember
politisch erwachte, wird der Frust weiter wachsen - außer Putin
besinnt sich und geht auf diese Gruppe zu, ohne deren Engagement eine
Modernisierung Russlands nicht gelingen kann.
Praktisch müsste das bedeuten, dass der neue alte Präsident in allen
Bereichen - politisches System, Justiz, Wirtschaft - Reformen
einleitet, die diesen Namen auch verdienen. Behutsam, um seine
ruhesüchtige Wählerschaft nicht zu verschrecken, aber entschlossen
genug, um die vielen Unzufriedenen, Wütenden und Veränderungsbereiten
an Bord zu holen.
Ist Putin als Person dazu fähig? Und wenn - ist er dazu auch in der
Lage? In beiden Fällen lautet die wahrscheinliche Antwort Nein. Putin
hat es nicht nur zugelassen, sondern gezielt herbeigeführt, dass sich
Russland selbst in Geiselhaft nahm. Dass es sich daraus auch selbst -
und ohne Gewalt - wieder befreit, ist nach dem 4. März 2012 nicht
mehr als eine Hoffnung.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom


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