Landeszeitung Lüneburg: Brasilien baut Marine-Muskeln auf / Ausbau einer Seemacht mit Atom-U-Booten und Flugzeugträgern soll Ansprüche im Südatlantik sichern
Geschrieben am 12-04-2012 |
Lüneburg (ots) - Baut China seine militärischen Fähigkeiten aus,
wird dies in Europa aufmerksam registriert. Nahezu unbemerkt blieb
hingegen, dass Brasilien bis 2030 die Zahl seiner Kriegsschiffe
nahezu verdoppeln will. Welche Ambitionen hat Brasilien als Seemacht?
Welche Chancen und Risiken ergeben sich für die NATO? Experte Sascha
Albrecht von der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik in
Berlin antwortet.
Wenn in Deutschland über aufstrebende Mächte nachgedacht wird,
rücken meist China und Indien in den Fokus. Warum wird Brasiliens
Aufstieg und Aufrüstung so oft übersehen?
Sascha Albrecht: Brasiliens ökonomischer Aufstieg wird in
Deutschland sehr wohl wahrgenommen, er ist für uns im Alltag aber
nicht so sichtbar. Während wir allerdings Technologie "Made in China"
nicht mehr nur mit Billigprodukten verbinden, sondern ganz deutlich
in allen für uns wichtigen Hightech-Produkten vorfinden, ist das
brasilianische Wirtschaftswachstum für uns nicht so sichtbar, da
brasilianische Hightech uns im Alltag nicht bewusst begegnet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht, dass der weltweit
drittgrößte Flugzeughersteller die brasilianische Firma EMBAER ist,
deren Flugzeuge auch von deutschen Airlines geflogen werden. Die
militärische Aufrüstung Chinas wird stets als Gegenpol zum
amerikanischen Machtanspruch kommuniziert und von daher oft als
Bedrohung westlicher Interessen dargestellt. Im Falle Chinas kann man
auch wirklich von einer Aufrüstung sprechen. Brasiliens maritime
Rüstung steht allerdings in einem ganz anderen Licht. Sie konkurriert
nicht mit einer auch geopolitisch relevanten Präsenz der USA oder
anderer Mächte im Südatlantik, sondern kommt vor allem durch die
Abwesenheit einer solchen Präsenz besonders zur Geltung.
Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass die Marine Brasiliens,
gemessen an der Größe der Küstengewässer und der Wirtschaftszone,
deutlich unterrepräsentiert ist. Wir sprechen hier immerhin von einem
Seegebiet, dass zweieinhalb Mal so groß ist wie das Mittelmeer.
Verfolgt Brasilien mit dem Ausbau seiner Seemacht Interessen, die
über die Landesverteidigung hinausgehen?
Sascha Albrecht: Ich denke schon. Für die Landesverteidigung
bräuchte Brasilien diesen Aufbau eigentlich nicht, da es an einem
Gegner fehlt und zum reinen Schutz der Wirtschaftszone auch eine
größere Anzahl von Hochseepatrouillenschiffen in Verbindung mit
anderen Überwachungssystemen ausreichen würde. Brasilien möchte aber,
und das hat vor allem der letzte Präsident Lula in seinen beiden
Amtszeiten sehr deutlich gemacht, als relevanter regionaler und
globaler Akteur wahrgenommen werden. Und hierzu sind
prestigeträchtige Schiffe, wie Flugzeugträger und Atom-U-Boote sehr
wichtig.
Was ist von Aussagen zu halten, Atom-U-Boote würden gebaut, um die
Ölreserven vor den Küsten zu schützen?
Sascha Albrecht: Das ist die offizielle Begründung der Marine und
der Politik. Ich denke jedoch, dass das Projekt nuklear angetriebener
U-Boote vor allem Prestigecharakter hat. Es ist ja an sich auch nicht
neu, sondern ein aus dem "Dornröschenschlaf" erwecktes Projekt der
70er-Jahre. Nach meiner Einschätzung könnte der Schutz der
Ölreserven, wenn überhaupt durch U-Boote, auch problemlos durch
konventionell angetriebene U-Boote erfüllt werden, die zu geringeren
Kosten in Anschaffung und Betrieb, und somit in größerer Zahl, gebaut
und in den bereits vorhandenen Stützpunkten entlang der Küste
stationiert sein könnten.
Brasilia kritisiert die Rolle der NATO als Weltpolizist hart.
Erwächst dem Bündnis im Südatlantik ein Rivale oder ein Partner?
Sascha Albrecht: Hier müssen zwei Dinge voneinander unterschieden
werden. Brasilien ist vom Grundsatz her ein absoluter Gegner der
Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten und
kritisiert in diesem Zusammenhang die neue globale Rolle der NATO.
Die Rolle der NATO im Südatlantik steht jedoch auf einem anderen
Blatt. Als es im Zusammenhang mit der Debatte um die neue
NATO-Strategie auch um die Frage ging, ob sich die NATO per
Festlegung auch für den Südatlantik zuständig fühlen sollte, gab es
aus Brasilia erheblichen Widerstand, da Brasilien diese Region für
sich als Einflusssphäre beansprucht. Letztendlich hat die NATO diese
Festlegung dann nicht getroffen. Brasilien hat kein erkennbares
Interesse, ein Rivale der NATO zu sein. Vielmehr möchte man als
maritime Macht wahrgenommen werden und reagiert natürlich angespannt,
wenn ein viel mächtigerer "Platzhirsch" im Revier auftaucht. Eine
klug agierende NATO, die sich derzeit im Südatlantik keinen
wirklichen Bedrohungen ausgesetzt sieht, sollte Brasilien als
wichtigen Partner anerkennen und dies auch zum Ausdruck bringen. Dies
würde beiden Seiten nützen: Brasilien könnte seine regionale Rolle
souverän weiter spielen, die NATO hätte mit Sicherheit einen
ausgesprochen zuverlässigen Partner mit regionalem Einfluss diesseits
und jenseits des Atlantiks.
Die demokratischen Regierungen Brasiliens führen den Kurs der
Militärregierung fort, den Schulterschluss mit West- und Südafrika zu
suchen. Verfolgt Brasilien eine nationale Strategie?
Sascha Albrecht: Schon zu Beginn der De-Kolonialisierung in
Afrika in den 60er-Jahren entdeckte Brasilien diese Länder als
Partner und vor allem als Absatzmarkt eigener Produkte. Damals wie
heute strebte Brasilien vor allem nach einer stärkeren regionalen und
globalen Anerkennung. Präsident Lula hat dabei ab 2003 die
afrikanischen Wurzeln der brasilianischen Bevölkerung betont und
somit auch eine kulturelle Basis zum Ausdruck gebracht. Dies verband
er mit einer diplomatischen Offensive, in deren Folge Brasilien in
Afrika heute über mehr diplomatische Niederlassungen verfügt als
beispielsweise Großbritannien.
Wird auf den Meeren eine weltgeschichtliche Wende sichtbar: Die
Europäer ziehen sich zurück, die Schwellenländer zeigen Präsenz?
Sascha Albrecht: Die europäischen Marinen waren seit dem Ende des
Kalten Krieges global nicht mehr besonders stark vertreten. Mitunter
gibt es bestimmte Schwerpunkte einzelner europäischer Staaten, wie
Frankreich, Großbritannien sowie den Niederlanden. Die Rolle der
permanenten globalen Präsenz gebührt allein der US-Marine, deren
Kürzungen im Verteidigungsetat jedoch auch Spuren hinterlassen
werden. Zurzeit sind die maritimen Herausforderungen im Wesentlichen
globaler Natur und bieten somit eine hervorragende Basis für eine
umfangreiche Kooperation. USA, NATO sowie EU verfügen über die
notwendigen Fähigkeiten und das Know-how, solchen internationalen
maritimen Verbänden unterschiedlichster nationaler Couleur wichtige
Fähigkeiten wie Führungsmittel und einheitliche Verfahren zur
Verfügung stellen zu können.
Als wirkungsvollstes Machtinstrument zur See gilt der
Flugzeugträger. Hier specken Paris und London ab, während die
Aufsteiger aufrüsten. Vorboten eines Wechsels auch im
Weltsicherheitsrat?
Sascha Albrecht: Ich glaube nicht, dass diese Veränderungen auf
anstehende Veränderungen in der konstituierten Machtverteilung im
Sicherheitsrat hindeuten. Zwar argumentieren brasilianische Politiker
und Militärs gerne in der Gestalt eines logischen Schlusses unter den
Prämissen: Alle Veto-Mächte im Sicherheitsrat haben Flugzeugträger.
Brasilien verfügt ebenfalls über diese Fähigkeiten. Schlussfolgerung:
Brasilien ist eine Veto-Macht im Sicherheitsrat. Es muss jedoch, um
in der Analogie zur Logik zu bleiben, festgestellt werden, dass die
Prämissen für die Schlussfolgerung trotz faktischer Richtigkeit nicht
relevant sind. Letztendlich ist das Vorhandensein dieser Fähigkeiten,
zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit, klarer Ausdruck
militärischer Macht und technologischen Vorsprungs gewesen, der sich
nun einmal darin gezeigt hat, dass man fähig und willens war, diese
Investitionen zu unternehmen. Diesen heute nachzueifern, führt mit
Sicherheit nicht zu einer Veränderung im Sicherheitsrat.
Droht ein Wettrüsten oder ist Brasiliens Führungsrolle in
Südamerika unangefochten?
Sascha Albrecht: Ein Wettrüsten droht meiner Einschätzung nach
überhaupt nicht. Zwar wird ein solches von einigen Analysten gesehen,
ich verstehe die aktuellen Rüstungsprojekte in der Region jedoch eher
unter Modernisierungsgesichtspunkten. Die Streitkräfte aller
südamerikanischen Staaten waren stark überaltert und mussten dringend
modernisiert werden. Dies geschieht nun nach und nach. Venezuela
stellt eine Ausnahme dar, da sich dessen Präsident Hugo Chavez
offensichtlich mit einer gewissen Leidenschaft rhetorische
Schlagabtausche mit den USA geliefert hat. Die starke Kooperation mit
Russland sollte vor allem die USA provozieren.
Russisch-venezolanische Marinemanöver vor der Haustür der USA boten
sich hierfür geradezu an. Seit dem Amtsantritt von Barack Obama ist
es allerdings auch in Caracas ruhiger geworden. Brasilien stellt bei
der politischen und ökonomischen Integration Südamerikas eine
treibende Kraft dar und hat somit großen Einfluss in der Region. Nach
außen hin herrscht jedoch keineswegs Einigkeit darüber, ob Brasilien
das Sprachrohr Südamerikas sein sollte.
Macht es Sinn, noch Entwicklungshilfe an ein Land zu zahlen, das
derart selbstbewusste Ansprüche erhebt?
Sascha Albrecht: Hier lohnt sich ein genauerer Blick. Brasilien
erhält, neben China und Afghanistan, zwar aus Deutschland die meisten
Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, die jedoch weniger als 0,1
Prozent des brasilianischen Bruttonationaleinkommens repräsentieren.
Die deutsche Zielsetzung liegt allerdings auch nicht mehr in
klassischer Entwicklungshilfe im Sinne von Armutsbekämpfung, sondern
in der Unterstützung globaler Aktivitäten wie Umweltschutz und
sogenannter Dreiecks-Kooperationen, bei denen entwicklungspolitische
Maßnahmen Brasiliens in Drittländern unterstützt werden. Das macht
die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Brasilien für
Deutschland auch weiterhin so wichtig.
Der Schutz der Handelsseewege durch die USA könnte in einigen
Regionen wegen neuer Herausforderer künftig nicht mehr
selbstverständlich sein. Muss sich Deutschland darauf einstellen, auf
See mehr Lasten zu schultern?
Sascha Albrecht: Diese Entwicklung muss auf jeden Fall im Auge
behalten werden. Allerdings sehe ich derzeit keine Gefahr in Gestalt
der neuen Mächte, wie China, Indien oder Brasilien. Es bestehen viel
zu enge gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten, als dass eine
Seite ein Interesse daran haben könnte, diese Beziehungen ernsthaft
zu stören. Wie ernst eine relevante Beeinträchtigung des Seehandels
gesehen wird, zeigen die Reaktionen auf die Drohung des Iran, die
Straße von Hormuz zu sperren. Eine größere Gefahr für den Seehandel
geht derzeit allerdings von der Piraterie aus. Hier ist ein
Engagement Deutschlands heute und auch zukünftig mit Sicherheit
gefragt. Ob sich Deutschland über diese Aufgabe hinaus auch an einer
verstärkten globalen maritimen Präsenz beteiligen kann und soll, ist
in erster Linie eine politische Entscheidung in Deutschland, die im
Zweifel durch verstärkte Investitionen unterlegt werden müsste.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
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