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"Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa" Ein Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Stärkung des europäischen Zusammenhaltes

Geschrieben am 18-10-2012

Hannover (ots) - "Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat
ihren Preis. Europa aber hat vor allem einen Wert." So heißt es in
einem Diskussionspapier, das der Rat der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) anlässlich des am heutigen Donnerstag beginnenden
Gipfels der Europäischen Union in Brüssel veröffentlicht hat. Der
Text trägt den Titel "Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten
Europa - Ein Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland zur
Stärkung des europäischen Zusammenhaltes" und bildet den Auftakt zu
einem Austauschprozess mit den europäischen Partnerkirchen.

Angesichts der Schulden- und Finanzmarktkrise gehe es längst um
mehr als um den Erhalt der gemeinsamen Währung in der Eurozone: "Es
geht um die Zukunft der europäischen Idee." Die EKD sehe sich in der
Verantwortung, für eine gemeinsame Zukunft in Respekt und sozialer
Verantwortung einzustehen. "Die Gemeinschaft in Europa hat einen
Wert, der weit über die gemeinsame Währung hinaus geht."

Krise und Integration Europas gingen die christlichen Kirchen
unmittelbar an. Die "Vision einer, versöhnten Verschiedenheit'" könne
nicht nur den Kirchen, sondern auch den Nationen Europas helfen,
"Zusammenhalt in Unterschieden" zu gestalten. Aus der ökumenischen
Erfahrung der Kirchen wachse auch ein gemeinsamer Auftrag in der
Welt. Deshalb setze sich die EKD für eine politische Ordnung ein, "in
der Vielfalt und Respekt vor unterschiedlichen Identitäten als Stärke
erlebt werden".

In dem Text wird vor einem Zerfall der Eurozone gewarnt, da in
einem solchen Fall neben "hohen volkswirtschaftlichen Belastungen"
auch mit einem "dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen" zu
rechnen sei. Solche "Verwerfungen" könnten "die Werte zerstören, die
Europa ausmachen und die die Europäische Union verkörpern: Frieden,
Wohlfahrt und Gerechtigkeit." In der Krise liege aber auch die
Chance, europäische Entscheidungsmechanismen längerfristig neu zu
justieren.

Eine Vertiefung der Gemeinschaft in Europa, so heißt es in dem
Text weiter, werde aber nur gelingen, wenn Entscheidungen in den
"sensiblen Bereichen nationaler Identität" - beispielsweise in der
Kultur- und Sozialpolitik - "auf nationaler Ebene belassen und
gesellschaftliche Unterschiede respektiert werden." Deshalb gelte es
"lokales Handeln und lokale Verantwortung" zu stärken. Eine
"vorschnelle Verlagerung möglichst vieler Entscheidungskompetenzen"
auf die Ebene der Europäischen Union drohe dagegen zu einer
Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger zu führen.

Das Wort der EKD bekräftigt, dass der europäische Kontinent in
besonderer Weise vom Christentum geprägt sei. Deshalb sehen sich die
Kirchen in der Pflicht für den europäischen Zusammenhalt einzustehen,
denn "Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung sind Anliegen,
die nicht an nationalen Grenzen enden." Und weiter heißt es: "Unsere
Zukunft liegt in Gottes Hand. Zugleich aber haben wir den Auftrag,
sie in der Nachfolge Christi mitzugestalten. Die Zukunft eines
freien, demokratischen und sozialen Europa lohnt unseren Einsatz -
nicht nur als Bürgerinnen und Bürger Europas, sondern auch als
christliche Kirchen."

Abschließend ruft der Text dazu auf, Europa zu "unserer Sache" zu
machen: "Es ist an der Zeit, die Kraft des gemeinsamen Glaubens zu
aktivieren", denn: "Die Kirchen - gerade in ökumenischer
Verbundenheit - haben die Kraft und die Reichweite, Menschen zu einem
gemeinsamen europäischen Weg zu ermutigen."

Das Wort "Für eine gemeinsame Zukunft in Europa" nimmt die
Überlegungen des Rates der EKD und verschiedene ökumenischen
Beratungen in den vergangenen Monaten auf. Die Veröffentlichung
versteht sich erster Schritt hin zu einem gemeinsamen ökumenischen
Wort zur Stärkung des Zusammenhalts in Europa. Zur Erarbeitung eines
gemeinsamen Eckpunktepapiers und zum Podiumsgespräch mit der
europäischen Politik beabsichtigt die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) andere europäische Kirchen und Kirchenbünde im
kommenden Jahr 2013 zu einer Konferenz einzuladen.

Hannover, 18. Oktober 2012

Pressestelle der EKD

Reinhard Mawick/Silke Römhild

Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa
Ein Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Stärkung
des europäischen Zusammenhalts

Am Vormittag des 12. Oktober 2012 hat das Nobelkomitee in der
norwegischen Hauptstadt Oslo den diesjährigen Empfänger des
Friedensnobelpreises verkündet: die Europäische Union. Damit ist die
zentrale geschichtliche Bedeutung der EU als Friedensprojekt von
renommierter Stelle gewürdigt worden.

Die Ehrung durch das Nobelkomitee ist auch deshalb von großer
symbolischer Bedeutung, da im Ringen um eine Lösung der Schulden- und
Finanzmarktkrise der europäische Gedanke ins Hintertreffen zu geraten
droht. Längst geht es um mehr als den Erhalt der gemeinsamen Währung
in der Eurozone, es geht um die Zukunft der europäischen Idee. Eine
Idee, die Europa in den letzten Jahrzehnten Frieden, Wachstum und
Wohlfahrt und ein wachsendes Maß an sozialer Gerechtigkeit beschert
hat. Doch die Bürgerinnen und Bürger sind verunsichert und viele
Mahner sehen den einzigen Ausweg im Ausstieg aus der
Gemeinschaftswährung und im Zurück zum Nationalstaat. Insbesondere
junge Menschen leiden aufgrund der schlechten Arbeitsmarktsituation
in vielen Staaten Europas unter Perspektivlosigkeit und begehren
gegen die Ungerechtigkeit auf. Oft führen die nationalen
Sparanstrengungen zu einer Vertiefung der Kluft zwischen Arm und
Reich. Wut und Frustration über die Regierenden entladen sich
vielfach an den Schwächsten der Gesellschaft: den Flüchtlingen und
Migranten. Aber auch zwischen den Staaten wächst die Ungleichheit und
die Spannungen steigen. Alte Ressentiments werden wieder hoffähig,
nationalistisch orientierte Kräfte gewinnen an Boden. Aber auch
Regierungen der politischen Mitte sehen die Europäische Union (EU)
zunehmend als Rechenexempel: Lohnt der Einsatz für Europa noch?

Die Gemeinschaft in Europa hat einen Wert, der weit über die
gemeinsame Währung hinausgeht. Ein Zerfall der Eurozone könnte uns
aber teuer zu stehen kommen: Neben hohen volkswirtschaftlichen
Belastungen wäre Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) zufolge mit einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen
zu rechnen. Die daraus entstehenden Verwerfungen in den
Gesellschaften wie zwischen den Staaten könnten alle Hoffnungen auf
einen gemeinsamen Weg aus der Krise zunichtemachen, ja, sie könnten
die Werte zerstören, die Europa ausmachen und die die Europäische
Union verkörpern: Frieden, Wohlfahrt und Gerechtigkeit. Die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat ihren Preis. Europa aber
hat vor allem einen Wert.

Einheit in Vielfalt

Krise und Integration Europas gehen die Kirchen unmittelbar an.
Die Vision einer "versöhnten Verschiedenheit" kann nicht nur den
Kirchen helfen, Zusammenhalt in Unterschieden zu gestalten. Aus der
ökumenischen Erfahrung erwächst auch ein gemeinsamer Auftrag in der
Welt. Wir setzen uns für eine politische Ordnung ein, in der Vielfalt
und Respekt vor unterschiedlichen Identitäten als Stärke erlebt
werden, eine Ordnung, in der Solidarität als bereichernder Prozess
der Teilhabe erfahren und nicht als Einbahnstraße empfunden wird. Als
Kirchen kennen wir die Spannungen und Konflikte, die mit Vielfalt
einhergehen, aus eigener Erfahrung. Zugleich leben wir aber aus der
Gewissheit, dass Einheit in Vielfalt gelingen kann, wenn die
Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt gerückt und Raum für Unterschiede
gelassen werden. Überkommene und oftmals überholte Abgrenzungen
lassen sich durch Demut und Bescheidenheit überwinden. Konfessionen
und Kulturen, Überzeugungen und Nationen bilden einen Rahmen für
unsere Erfahrungen und bestimmen unsere Perspektiven. Sie werden uns
aber nicht daran hindern, immer neu nach der verbindenden Mitte und
nach gemeinsamen Zielen Ausschau zu halten. Wie eine Gemeinschaft in
Vielfalt zusammenwachsen kann, haben die evangelischen Kirchen in
Europa erfahren. Dafür stehen sinnbildlich die Leuenberger Konkordie
(1973) und die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, aber
auch die Charta Oecumenica (2001). In diesen Dokumenten sehen wir
auch ein Zeichen der Hoffnung für Europa.

Gemeinsam sind wir stärker

Die EU der 27 Staaten ist zu ihrem Glück vereint: Nicht unter
einer zentralen Macht, sondern in freier Selbstbestimmung ihrer
Völker und Staaten. Doch die Vermittlung europäischer Politik in die
Mitgliedsländer ist kompliziert. Obwohl die Brüsseler Entscheidungen
alle Bürgerinnen und Bürger betreffen, scheint Europa weit weg, die
Gesetzgebungsverfahren bürokratisch und komplex, mitunter
überreguliert und schwer durchschaubar. Deshalb befürchten die
Menschen, bei einer Weiterentwicklung der EU von wichtigen
politischen Entscheidungen abgekoppelt zu werden. Wir sehen die
Gefahren dieser Entfremdung mit Sorge. Trotz aller Rückschläge hat
sich der Zusammenschluss der europäischen Völker bewährt.

In der globalisierten Welt sind selbst die großen europäischen
Staaten zu klein, um wirtschaftliche und ökologisch-nachhaltige
Entwicklungen beeinflussen zu können. Angesichts der wirtschaftlichen
Vernetzung mit all ihren Abhängigkeiten brauchen wir die Europäische
Union, um die Rahmenbedingungen im Sinne unserer Vorstellungen und
Werte beeinflussen zu können. Für die Außen-, Klima-, Umwelt-,
Energie-, und Entwicklungspolitik gilt: Gemeinsam sind wir stärker.

Dank unserer langen ökumenischen Erfahrung mit globalen Netzwerken
ist uns als Kirchen bewusst: Nur ein geeintes Europa kann seinen
wirtschaftlichen, vor allem politischen Einfluss wahren und wirksam
für Menschenrechte und Menschenwürde und für eine demokratische,
ökologische und soziale Marktwirtschaft eintreten.

Subsidiarität - Verantwortung auf allen Ebenen gestalten
Angesichts globaler Herausforderungen genügen nationale Antworten
nicht mehr. Deshalb brauchen wir ein starkes Europa - als offene
Zivilgesellschaft, als politische Wertegemeinschaft und auch als
Wirtschaftsraum. Das bedeutet nicht, dass künftig alle Fragen
gemeinsam geregelt werden müssen. Eine Vertiefung der Gemeinschaft
wird nur gelingen, wenn Entscheidungen in den sensiblen Bereichen
nationaler Identität wie beispielsweise in der Kultur- und
Sozialpolitik auf nationaler Ebene belassen und gesellschaftliche
Unterschiede respektiert werden. Ein Europa der Freiheit lebt auch
von der Verantwortung seiner Mitgliedstaaten für eine nachhaltige
Haushaltspolitik und gerechte Sozialsysteme. Lokales Handeln und
lokale Verantwortung gilt es zu stärken. Denn hier haben Bürgerinnen
und Bürger die effektivsten Mitgestaltungsmöglichkeiten, hier können
sie sich am besten mit der Politik identifizieren und Europa in
vielfältigen Begegnungen und regionalen Partnerschaften erleben. Eine
klare Teilung der Entscheidungshoheit auf nationaler und europäischer
Ebene erleichtert den Bürgerinnen und Bürgern, politische
Entscheidungen den richtigen Akteuren zuzurechnen. Die unmittelbare
Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger hat aber notwendig auch ihre
realistischen Grenzen. Nur in einem entwickelten System
repräsentativer Demokratie können die notwendige Teilhabe der
Bürgerinnen und Bürger und ihre Identifizierung mit der europäischen
Politik gelingen. Eine vorschnelle Verlagerung möglichst vieler
Entscheidungskompetenzen auf die EU kann dagegen zu einer Entfremdung
der Bürger von der europäischen Politik und damit von Europa führen.

In der Krise liegt auch die Chance, europäische
Entscheidungsmechanismen längerfristig neu zu justieren. Nicht alles
muss in Brüssel geregelt werden, aber was dort geregelt wird, bedarf
der demokratischen Legitimation.

Ein Europa der Bürgerinnen und Bürger: Demokratie stärken 500
Millionen Bürgerinnen und Bürger leben gemeinsam in der Europäischen
Union - in Frieden, Freiheit und relativem Wohlstand. Dies ist ein
hohes Gut. Deshalb treten die Kirchen nachdrücklich dafür ein, diese
Ordnung im Sinne eines demokratischen Gemeinwesens
weiterzuentwickeln. Die Krise hat gezeigt, dass die Funktionsweise
der EU dringend verbesserungsbedürftig ist. Es ist nicht Aufgabe der
Kirchen, ein Zukunftsszenario für eine neue Verfassung der EU zu
entwerfen, doch es ist festzuhalten, dass auf dem Weg zu einer echten
politischen Union längerfristig eine Änderung der europäischen
Verträge unumgänglich sein wird. Die dazu notwendige politische
Debatte um die Zukunft des europäischen Projekts muss mit den
Bürgerinnen und Bürgern geführt werden. Zunächst aber müssen die
bestehenden vertraglichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die
Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen zu stärken und die
demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen durch das
Europäische Parlament, etwa durch ein eigenes Initiativrecht, zu
vertiefen. Wichtig ist auch, die nationalen Parlamente noch mehr in
europäische Debatten einzubinden und den Austausch zwischen
nationaler und europäischer Volksvertretung zu intensivieren. Die
Schaffung bzw. Stärkung einer europäischen Öffentlichkeit in den
Ländern ist eine schwierige, aber wichtige Aufgabe.

Solidarität - das Versprechen erneuern

Die Europäische Union ist ein Versprechen. Dieses Versprechen geht
weit über die Bewahrung wirtschaftlichen Wohlstands hinaus und wird
erst im Wettbewerb mit anderen Gesellschaftsmodellen und
Volkswirtschaften wirklich erkennbar. Europa steht für ein Leben in
Frieden und Freiheit, für offene Grenzen, für Menschenrechte,
Chancengleichheit und soziale Verantwortung, für Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Europa ist aber auch das
Versprechen, im Moment der "Krise" auf ein Füreinandereintreten der
Gemeinschaft vertrauen zu können. All dies ist keine
Selbstverständlichkeit.

In der Krise muss sich bewähren, was die Gründungsväter mit der
Vision des vereinten Europa im Blick hatten: Die Gemeinschaft der
europäischen Völker hat ihre Basis nicht nur in wechselseitigem
Vorteil und in der Stärkung des Wirtschaftsraums in Zeiten einer
forcierten Globalisierung, sondern auch in der Bereitschaft zu
Respekt und gegenseitiger Solidarität. Wenn diese Hoffnung enttäuscht
wird, erodiert das Vertrauen in die europäische Gemeinschaft. Dabei
darf allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Solidarität und
Subsidiarität zusammengehören. Das Einstehen der europäischen Völker
füreinander lebt gleichermaßen von der Unterstützung, die sie
einander in Krisen geben können wie von der Verantwortung jeder
Nation, für Wohlstand und Wohlfahrt des eigenen Volkes zu sorgen.
Dass und wie beides zusammengehört, haben die Kirchen in Deutschland
in ihrer Nachkriegsgeschichte erfahren.

Für ein soziales Europa

Das Wachsen sozialer Ungleichheiten und Spannungen in Europa kann
eine ähnlich gefährliche Dynamik entfalten wie die Verschärfung der
wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Staaten. National wie
international sollten die Kosten der Krise vor allem von den
Stärkeren getragen werden. Sie dürfen nicht zuerst über den Abbau von
Sozialleistungen aufgebracht und vorrangig den nachfolgenden
Generationen aufgebürdet werden. Das schließt die Herausforderung
ein, die Struktur der Sozialstaaten so zu gestalten und
gegebenenfalls zu reformieren, dass sie auch angesichts des
demographischen Wandels krisenfest bleiben. Trotz aller Mahnungen der
Kirchen seit der weltweiten Finanzmarktkrise 2008 scheint derzeit das
Gegenteil der Fall zu sein. Die Steuerzahler auch der nächsten
Generationen bürgen für die Rettungspakete. Besonders hart trifft es
die Jugendlichen, die unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit leiden,
aber auch diejenigen, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen
sind, sowie Menschen, die krank oder behindert sind und die
notwendige Versorgung nicht mehr erhalten. Freiheitsrechte und
soziale Menschenrechte gehören zusammen.

Die Kirchen sehen sich in der Verantwortung, die Europäische Union
sozial und solidarisch mitzugestalten. Dazu muss Europa als
Solidargemeinschaft seine sozialen Konturen schärfen. Aber auch in
den einzelnen Volkswirtschaften sind die Vermögenden aufgefordert,
die Kluft zwischen denen, die wirtschaftlich und politisch
dazugehören, und denen, die ausgeschlossen sind, zu überbrücken.
Schaffen es die politisch Verantwortlichen nicht, wirtschaftliche
Freiheit und soziale Verantwortung im Sinne einer "sozialen
Marktwirtschaft" in der Balance zu halten, werden die Bürgerinnen und
Bürger das Vertrauen in ein demokratisches und soziales Europa
verlieren. Die steigende Europa-Skepsis der Bundesbürger angesichts
stetig wachsender Rettungsschirme zeigt, wie notwendig klare
politische Perspektiven sind, die über den Tag hinausgehen. Der
anti-europäische Reflex, der sich in den Ländern, die Unterstützung
erfahren, aus der Erfahrung von sozialer Ungerechtigkeit speist, ist
die vielleicht größte Gefahr für das europäische Projekt. Menschen
und nicht Märkte müssen im Mittelpunkt der Politik stehen. Um das
durchzusetzen, haben gerade die globalisierten Eliten eine besondere
Verantwortung; Menschen, die privat wie beruflich in
unterschiedlichen Kontexten gelebt haben und leben, können nicht nur
in ihren Nationen und Kulturen, sondern auch zwischen den Kulturen
Brücken schlagen und Wege in die Zukunft weisen. Europa ist nicht nur
ein Wirtschafts-, sondern auch ein Lebensraum. Eine weitere
Regulierung der Finanzwirtschaft ist daher dringend nötig; die
Einführung einer Finanztransaktionssteuer in einigen Mitgliedstaaten
der EU wäre ein erster Schritt.

Ökumenische Aufbrüche erinnern und gestalten Die Geschichte
Europas ist von Kriegen, Konflikten und tiefen gegenseitigen
Verletzungen geprägt. Europa hat aber auch eine beispielhafte
Geschichte der Versöhnung, die eng verbunden ist mit Vergebung und
vielfältigen Friedensprojekten, die die Kirchen nach dem zweiten
Weltkrieg erfuhren und einander gewährten. Die Vollversammlung des
Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam, die Aktion
Sühnezeichen-Friedensdienste in Deutschland oder die Erklärung der
Deutschen und Polnischen Bischofskonferenz von 1972 seien als
Beispiele genannt. Auch an die geduldige und hartnäckige Arbeit der
Konferenz Europäischer Kirchen und die ökumenischen Versammlungen des
konziliaren Prozesses in Stuttgart, Dresden und Basel soll hier
erinnert werden - sie haben auf ihre Weise dazu beigetragen, dass der
Eiserne Vorhang durchlässig wurde und schließlich die Mauer fiel.
Europa eine Seele zu geben, bedeutet, sich den Wunden der
Vergangenheit zu stellen, aber auch die vielfachen Spannungen, Brüche
und Verletzungen unserer Gegenwart nicht zu leugnen. Gemeinsame Orte
heilsamer Erinnerungen und Solidaritätsprojekte, die Ungleichheit
überwinden, weisen einen Weg aus den monologischen
Erinnerungskonstruktionen der nationalen Kulturen - hin zur
versöhnten Verschiedenheit.

(Glaubens-)Gemeinschaft ohne Grenzen

Der europäische Kontinent ist in besonderer Weise vom Christentum
geprägt. Als Kirchen und als Christen sehen wir uns in der Pflicht,
für den europäischen Zusammenhalt einzustehen, denn unser Glaube und
unsere Gemeinschaft kennen keine Grenzen; Friede, Gerechtigkeit,
Bewahrung der Schöpfung sind Anliegen, die nicht an nationalen
Grenzen enden.

Die Europäische Gemeinschaft ist diesen Zielen auf politischer
Ebene verpflichtet. Deshalb sehen wir in der Europäischen Union ein
wichtiges Instrument, um ihre Verwirklichung zu ringen. Unsere
Zukunft liegt in Gottes Hand. Zugleich aber haben wir den Auftrag,
sie in der Nachfolge Christi mitzugestalten. Die Zukunft eines
freien, demokratischen und sozialen Europa lohnt unseren Einsatz -
nicht nur als Bürgerinnen und Bürger Europas, sondern auch als
christliche Kirchen. Mit der Erinnerung an tragende Normen, im Ringen
um Einheit in der Vielfalt, im ökumenischen Austausch und in
zivilgesellschaftlichen Partnerschaften wollen wir das Unsere dazu
beitragen, den Kontinent und seine politische Ordnung
weiterzuentwickeln und fordern andere zivilgesellschaftliche Kräfte
auf, das Ihre zu tun. Europa bietet viele Chancen und Möglichkeiten,
seinen Bürgerinnen und Bürgern eine gute Zukunft zu ermöglichen und
sich darüber hinaus weltweit für Menschenrechte, Religionsfreiheit,
Demokatie und ein soziales und nachhaltiges Wirtschaften einzusetzen.
Im Bewusstsein der Grenzen der finanziellen und vor allem der
natürlichen Ressourcen fordern wir vor allem ein stärkeres
Miteinander ein - zwischen den Staaten und Völkern Europas, aber auch
mit den Nachbarn nah und fern.

Europa zu unserer Sache machen

Es ist an der Zeit, die Kraft des gemeinsamen Glaubens zu
aktivieren. Wir müssen den Prozess der europäischen Integration, der
maßgeblich auch von engagierten Christinnen und Christen gestaltet
worden ist, zukunftsfähig halten. Die Kirchen - gerade in
ökumenischer Verbundenheit - haben die Kraft und die Reichweite,
Menschen zu einem gemeinsamen europäischen Weg zu ermutigen. Sie
haben die Inspiration, den europäischen Gedanken zu leben. Und sie
haben Erfahrungen, praktisch zu illustrieren, was
Völkerverständigung, Einheit in Vielfalt und gemeinsames Handeln über
Grenzen hinweg bedeuten kann.

Als EKD wollen wir Europa gemeinsam mit den anderen Kirchen und
Religionsgemeinschaften so mitgestalten, dass es auch "unser" Europa
ist und bleibt, ein Europa aller Bürgerinnen und Bürger, ein Europa,
mit dessen Politik wir uns identifizieren können. Wir wollen es
mitgestalten - nicht nur über unsere Mitgliedstaaten und die Wahlen
zum Europäischen Parlament, sondern direkt als christliche
Bürgerinnen und Bürger, in unseren Verbänden und Gemeinden, in
sozialen Initiativen, ökumenischen Partnerschaften und
Kooperationsprojekten, als Christinnen und Christen mit unserem
Handeln wie mit unserem Gebet. Wir leben Europa schon heute auf
vielerlei Weise, vom Gemeindeaustausch bis zur Kooperation in den
ökumenischen Institutionen Europas. Darin liegt die Zukunft: Europa
leben, damit Europa leben kann!

Hannover, den 18. Oktober 2012



Pressekontakt:
Evangelische Kirche in Deutschland
Reinhard Mawick
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail: reinhard.mawick@ekd.de


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