Landeszeitung Lüneburg: ,,Kaum eine Wachablösung ohne Krieg" -- Interview mit der Historikerin Prof. Andrea Komlosy
Geschrieben am 27-12-2012 |
Lüneburg (ots) - Viele nehmen den Aufstieg Chinas, Indiens und
Brasiliens, der weit mehr als nur das kommende Jahr prägen wird, als
überraschende Verschiebung der Machtverhältnisse in der Welt wahr.
Aus historischer Sicht ist der Aufstieg und Fall hegemonialer Mächte
aber normal, sagt die Wiener Historikerin Prof. Andrea Komlosy. Das
Fatale daran: "Solche globalen Umbrüche kommen selten ohne Krieg
aus."
Erleben wir mit dem anbrechenden "asiatischen Jahrhundert" eine
Normalisierung -- eine Rückkehr zu lange, bis in die beginnende
Neuzeit, ähnlichen Verhältnissen?
Prof. Andrea Komlosy: Wir erleben in der Tat eine Rückkehr zu
einer ostasiatischen Dominanz. Ob China sich wirklich zum neuen
Hegemon aufschwingt, ist noch nicht ausgemacht. Eine Stärkung Asiens
gegenüber Europa und Amerika ist aber schon jetzt zu beobachten. Ob
man das aber als "Normalisierung" bezeichnen soll, da bin ich
skeptisch. Denn wer definiert, was der Normalzustand der
Globalgeschichte ist? Normal erscheint noch am ehes"ten die Ablösung
von Hegemonien, nicht die Dominanz Ostasiens.
Aber sie ist auch kein Ausnahmezustand. Verdrängte der Westen,
dass seine Dominanz kein Naturgesetz ist?
Prof. Komlosy: Wir haben uns derart an westliche Überlegenheit
gewöhnt, dass wir dazu neigen, diese in die Geschichte zurück zu
projizieren. Ebenso trifft man oft eine Haltung an, heutigen
Entwicklungsländern eine quasi ewige Rückständigkeit zu attestieren.
Das ist selbstverständlich eine Fehleinschätzung. So waren China,
Indien, der arabische Raum und Kleinasien über Jahrhunderte
technologisch, militärisch und wirtschaftlich überlegen. Insofern
birgt die Frage ein spannendes Forschungsfeld, wie sich das Vorurteil
herausbilden konnte, dass diese Regionen schon immer rückständig
waren. Die aktuellen geopolitischen Verschiebungen rücken in dieser
Hinsicht einige Fehleinschätzungen zurecht, weil auch uns
Zeitgenossen klar wird, dass sich in Ostasien schon häufiger mächtige
Zentralmächte herausgebildet hatten.
Manche Wissenschaftler und auch die Öffentlichkeit reagieren auf
die tektonischen Machtverschiebungen eher überrascht. Zeugt das von
einer lange gepflegten West-Orientierung?
Prof. Komlosy: Ja, eines der Hauptprobleme in der Debatte ist eine
mangelnde Historizität. Man glaubt, man könne die derzeitigen
Veränderungen allein auf Basis der gegenwärtigen Ausgangslage
diskutieren. Wie bizarr dies ist, wird klar, wenn man die
Machtverschiebungen innerhalb des Westens unter die Lupe nimmt.
Zunächst war Amerika absolut marginal, lag abseits des
Weltgeschehens. Erst im 20. Jahrhundert schwangen sich die USA in
ihre hegemoniale Position auf, drängten Westeuropa in die zweite
Reihe. Damit der Westen seine heutige Stellung erlangen konnte,
musste er sich zunächt mal gegen asiatische Kompetenz durchsetzen.
Viele Entwicklungsphilosophien des 19. Jahrhunderts wie der
Sozialdarwinismus, ebenso der Rassismus, gingen davon aus, dass den
Westen physische oder mentale Faktoren für seine Rolle
prädes"tinierten. Tat"sächlich gelang es dem Westen in einer
bestimmten historischen Situation, Nachteile in Vorteile zu
verwandeln. Dazu bediente er sich zweier Machtmittel, die er aber
heute ver"teufelt: Protektionismus im Verein mit militärischer
Absicherung. Die indus"trielle Revolution, die heutzutage als
spezifisches Merkmal westlicher Überlegenheit gilt, wurde nicht
zuletzt forciert, um asiatische Überlegenheit bei der gewerblichen
Produktion auszugleichen. Mechanisierung, staatliche
In"dustrieförderung und Machtprojektion wurden konzertiert
eingesetzt, um die asiatische Konkurrenz vom eigenen Markt, aber auch
von deren angestammten Absatzmärkten zu verdrängen.
Was hat den Erfolg Europas bewirkt? Der Buchdruck wurde in Korea
40 Jahre vor Gutenberg erfunden, aber umwälzende Wirkung entfaltete
er nur hier.
Prof. Komlosy: Einschränkend muss man zunächst sagen, dass der
Zeichendruck leichter zu bewältigen ist als der mit Lettern, der
Voraussetzung für den Buchdruck ist. Aber der Buchdruck ist
tatsächlich einer dieser vermeintlich genuin westlichen Kompetenzen,
die tatsächlich aber auch Wurzeln in Asien haben. Analoges gilt für
die Textilproduktion. In Europa wurde das Spinnrad im 13. Jahrhundert
erfunden. Zu diesem Zeitpunkt hatte es in China aber schon eine
Jahrhunderte währende Geschichte. Und es stimmt auch nicht der oft
gebrauchte Nachsatz, "sie konnten die Erfindungen nicht umsetzen."
Gerade im Textilienbereich waren Asiaten sehr wohl im Stande,
hochwertig und in Masse zu produzieren. Keineswegs haben westliche
Handelskompanien von dort nur Gewürze und Rohstoffe importiert.
Vielmehr waren dies teilweise hochwertige Gewerbeprodukte. Im
Englischen steht der Begriff "China" für Porzellan. Das zeigt schon,
wo damals die Überlegenheit in der Produktion gehobener Konsumgüter
angesiedelt war.
Wie kam es, dass die zum Teil schon sehr alten Nationalstaaten --
anders als der Westen -- darauf verzichteten, ihre Produkte zu
schützen?
Prof. Komlosy: Hier spielt zum einen die Selbstbeschränkung des
Reiches der Mitte auf sich selbst eine Rolle. Die Regierung setzte
ein Außenhandelsmonopol durch und beschränkte den Zutritt
ausländischer Händler auf Kanton. Aufgebrochen wurde das Land im 19.
Jahrhundert vom britischen Imperialismus, der sich diesen Markt nicht
entgehen lassen wollte. Hier ebnete die militärische Übermacht den
Händlern den Weg. Die chinesische Führung hätte sich nicht träumen
lassen, in einen solchen internationalen Konflikt gezogen zu werden,
nachdem sich das Land so lange dank seiner Stärke isolieren konnte.
Diese Intervention löste langanhaltende Wirren aus, die im Grunde
erst unter kommunistischer Herrschaft beendet wurden.
Ist eine Periodisierung der Weltgeschichte aus europäischer Sicht
ohnehin verfehlt?
Prof. Komlosy: Die europäische Periodisierung der Geschichte --
also die Abfolge von Antike, Völkerwanderung, Mittelalter, Neuzeit
usw. -- macht aus Sicht unseres Kontinents trotz aller der für ihn
typischen regionalen Unterschiede durchaus Sinn. Sie aber anderen
Regionen und Völkern überzustülpen, würde ich als europäischen
Universalismus bezeichnen. Es macht wenig Sinn, anderen Völkern ein
Mittelalter zu unterstellen. Politik und Wissenschaft behielten das
Denkmodell des christlichen Universalismus bei: Das europäische
Muster wurde anderen Völkern übergestülpt, jedes Abweichen von der
europäischen Norm disqualifiziert -- entweder als Zeichen der
Unterentwicklung oder -- bei Indizien von Überlegenheit beim anderen
wie im Falle Chinas -- als Zeichen einer Despotie. Normalität war aus
dieser Sicht das Nachahmen des europäischen Vorbildes. In der
Geschichtswissenschaft schlägt sich dieses Denken in der Vorgabe
bestimmter zu durchlaufender Entwicklungsstufen nieder, die wie
selbstverständlich denjenigen Europas entsprechen.
Bestimmte Grundmotive beim Aufstieg und Fall großer Mächte finden
sich immer wieder, etwa die Gefahr der Überdehnung. Sehen Sie da
Parallelen zwischen Rom, England und den USA?
Prof. Komlosy: Ich bin skeptisch, ob man Rom in diese Reihe
stellen kann. Rom war ein Imperium alter Ordnung, vergleichbar eher
mit China, das sich nicht als Akteur in den internationalen
Beziehungen verstanden hat, sondern als Weltreich. Zwar wissend, dass
nicht die ganze Welt untertan war, dennoch wurde der Rest der Welt
nur in Relation zu sich selbst definiert. Großbritannien zeigte und
die USA zeigen zwar expansionistische Tendenzen, agieren aber
innerhalb des internationalen Systems. Bei der zyklischen Abfolge von
Hegemonialmächten -- hier gehört Rom wieder in die Reihe -- lassen
sich aber immer Phasen prosperierender, expansiver Entwicklung
beobachten, in denen sich die Vormächte unerschlossene Ressourcen
oder die der Nachbarn aneigneten. Diese Aufschwungphasen stoßen aber
immer an Grenzen, das können innere Grenzen sein -- etwa durch
Verteilungskonflikte -- oder die Grenzen von Nachbarn. Diese konnten
in der Situation des Bedrängtseins oft durch Innovationen Änderungen
des Kräfteverhältnisses bewirken, was die typischen Auf- und
Abstiegsphasen von Imperien bewirkt.
Güter, Ideen und Menschen wanderten schon in der Bronzezeit, aber
lange nicht so intensiv wie derzeit. Könnte es heute zu einer
Angleichung, einer Art globalen Kultur kommen?
Prof. Komlosy: Nein, das glaube ich nicht, das halte ich eher für
eine Wunschvorstellung bestimmter hegemoniesüchtiger Kreise. Die
Abfolge der Hegemonialmächte verläuft ja nicht nahtlos. Es sind immer
nur relativ kurze Phasen, in denen Mächte unangefochten dominieren,
wie Großbritannien im 19. Jahrhundert und die USA unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg. Sehr viel länger sind die Phasen, in denen es
zu Konflikten kommt, weil Konkurrenten nach vorne drängen. Im Moment
leben wir in einer Phase, in der die Hegemonie der USA längst brüchig
ist, obwohl sie etwa in militärischer Hinsicht noch Bestand hat.
Selbst die EU ist als Block auch eine Antwort auf den Machtanspruch
der USA. In Asien formieren sich Allianzen, während China den
Alleingang wählt. Ohne Krieg kam kaum ein Hegemoniewechsel aus.
Derartige Konflikte sind schon zu beobachten: in Nahost und in
Ostasien. China versucht sich so zu positionieren, dass es seine
Rohstoffsicherung global kontrollieren kann. Die Symbiose zwischen
dem Schuldner USA und seinem Kreditgeber China, die zwanzig Jahre für
Stabilität sorgte, endet. Ich bin nicht so optimistisch, einen großen
oder mehrere kleinere Konflikte auszuschließen, die Chaos auslösen
würden, bevor sich eine neue Stabilität herauskristallisiert.
Droht zwischen dem alten Hegemon USA und dem neuen China ein
ähnlicher Konflikt wie Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen England
und Deutschland?
Prof. Komlosy: Ja, im Prinzip folgt die Gegenwart dem damaligen
Muster: Der Newcomer Deutschland hatte versucht, sich gegenüber dem
Hegemon durchzusetzen, die imperialistischen Erfolge Londons
nachzuholen. Im Ergebnis waren allerdings die USA der Erbe des
Hegemons. Derzeit sieht sich Peking in einer vergleichbaren
Herausforderer-Rolle.
Welche Rolle wird Europa im asiatischen Jahrhundert spielen?Nur
noch die der Billiglohn-Region?
Prof. Komlosy: Ich sehe für Europa eine Chance darin, wenn es
seinen universalistischen Anspruch ablegt, wenn es sich eher als
Provinz der Welt sieht denn als ihr führendes Zentrum. Wenn
Regionalisierung eine der Folgen der laufenden Umbrüche sein wird,
kann Europa mit seiner Tradition der Regionalisierung als Hochkultur
bestehen bleiben und muss sich nicht als Billiglohn-Region
unterwerfen. Für Europa-Pessimismus sehe ich keinen Grund.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
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