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Landeszeitung Lüneburg: Die Kulturnation liegt in Trümmern / Der britische Historiker Paul Ginsborg rät seinen besten Studenten, aus Italien auszuwandern

Geschrieben am 21-02-2013

Lüneburg (ots) - Ein neues Parlament wird am Wochenende im
krisengeplagten Italien gewählt. Der Historiker Paul Ginsborg
erklärt, warum noch so viele Italiener den skandalumwitterten
Ex-Premier Silvio Berlusconi unterstützen, und welche Verantwortung
Helmut Kohl für den Erfolg des Medienmoguls trägt.

Berlusconi hat während seiner vielen Regierungsjahre kein einziges
Versprechen eingehalten. Nun kehrt er mit unrealistischen Vorschlägen
zurück. Wieso unterstützen ihn noch so viele Italiener?

Paul Ginsborg: Ich denke, es gibt verschiedene Erklärungsebenen
eines Phänomens, das im Ausland als völlig unerklärlich scheint. Die
erste ist, dass Berlusconi sehr gut die Sektion der italienischen
Bevölkerung vertritt, die immer wirtschaftlich dynamisch war: die
kleinen Familienunternehmen, die Selbstständigen, die in der
italienischen Realität präsenter sind, als in jedem anderen
europäischen Land. Wir reden von 28 Prozent der Beschäftigten. Diese
Familien und Unternehmer samt deren Arbeiter waren immer große
Berlusconi-Befürworter. Denn dieser verkörpert den Selfmademan,
jemanden der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat. Sie lieben
Berlusconi, weil er verspricht, Steuer zu senken, aber vor allem,
weil er ein Bild des Staates vertritt, der statt seine Nase in die
Geschäfte der Unternehmer zu stecken, ihnen grundsätlich Spielraum
lässt, sich zu konsolidieren und zu bereichern. Dieser Teil der
Bevölkerung ist nicht zu unterschätzen. Das gleiche gilt für eine
andere Sektion, die Umfragen zufolge den treuesten Berlusconi-Wähler
stellt: Hausfrauen über 55, die mehr als drei Stunden pro Tag
Berlusconis Fernsehsender gucken. Allen Skandalen, Lügen und
Prozessen zum Trotz, glauben diese Menschen, dass Berlusconi ihnen
mehr Garantien für ihre Zukunft geben kann als jeder andere
Politiker.

Für ein Funktionieren der Gesellschaft muss der Bürger Regeln
einhalten, etwa des Fiskus, der Justiz. Berlusconi hat dies als
erster Bürger nicht getan. Hat der Berlusconismus die öffentliche
Moral verändert?

Ginsborg: Ich denke, ja. Und wahrscheinlich hat sie sich
verschlechtert. Andererseits Sie, wie die Deutschen, und ich, wie die
Engländer, sollen uns vorsehen, automatisch auf Italien Standards
anzuwenden, die wir von unseren Regierungen erwarten, von unserer
politischen Klasse. Italien ist immer ein Land gewesen, in dem
Vetternwirtschaft stark präsent ist, Korruption und Bestechung zum
Alltag gehören. Wo oft die Gewissheit des Gesetzes fehlt, das
Abhören, Erpressen dagegen im Überschuss da ist. Genauso wie in
anderen mediterranen Ländern, Griechenland etwa, oder das zutiefst
korrupte Ägypten. Es ist schwierig, weil Italien gleichzeitig in
Europa und am Mittelmeer ist, eine Kombination, die in zwei
entgegengesetzte Richtungen führt. Berlusconi lobt Mussolini. Grillo
will ein Referendum, um den Euro abzuschaffen, Maroni eine
lombardische Währung schaffen. Entfernt sich Italien immer mehr von
Europa? Ginsborg: Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, man sollte
unterscheiden zwischen der Oberfläche der italienischen Politik, die
stets melodramatisch war und noch ist, und der Realität. In der
Wirklichkeit ist Bersani der voraussichtliche Wahlsieger. Er wird nur
im Abgeordnetenhaus die Sitzmehrheit erringen und diese im Senat
verfehlen. Dort wird er eine Koalition mit Monti angehen. Der Chef
der Sozialdemokraten ist ein sehr besonnener Mann. Ich habe nie einen
so gemäßigten Ex-Kommunisten erlebt.

Also muss Europa nicht das Schlimmste befürchten?

Ginsborg: Ich denke nicht. Ich wäre richtig überrascht, wenn
Berlusconi gewinnen würde, obwohl er eine fulminante Aufholjagd
hingelegt hat, indem er seine ganzen Fernsehsender eingesetzt hat.
Und indem er sich noch im Alter von 76 Jahren für fähig erwiesen hat,
sich seinen Wählern so zu zeigen, wie kein anderer. Italien stellt
meiner Meinung nach keine Bedrohung für Europa dar. Seit 1994
verleumdet Berlusconi Europa, nie hat er es gewagt, Italien von
Europa zu entfernen, wenngleich seine letzte Regierung in vielerlei
Hinsicht ein Desaster war.

Die größte Gefahr - wie die Umfragen zeigen - ist die
Zersplitterung. Dass niemand wirklich gewinnt. Italien wäre dann
unregierbar. Erwarten Sie ein Abdriften wie in Griechenland?

Ginsborg: Nein, das erwarte ich nicht. Es steht mir eigentlich
nicht zu, vorherzusehen. Ich blicke für gewöhnlich in die
Vergangenheit. Aber wenn ich einen Blick in die Zukunft wagen soll,
dann sehe ich eine Koalition Bersani-Monti. In der Geschichte der
italienischen Republik würde also nochmals die Kontinuität siegen.

Bersani verspricht kein Steuerparadies, stellt stattdessen das
Problem der Arbeit in den Wahlkampf-Mittelpunkt. Wie bewerten Sie
sein Programm? Beflügelt oder benachteiligt sein Appell zum Realismus
das Mitte-Links-Bündnis?

Ginsborg: Es ist sehr gut, dass Bersani dies tut. Die Arbeit IST
das Problem Nummer eins der italienischen Gesellschaft, insbesondere
der Jugend, und vor allem der Jugend im Süden und auf den Inseln. Was
Wünsche und Hoffnungen einer ganzen Generation betrifft, der
Generation unserer Kinder, erleben wir eine ähnlich dramatische
Situation wie Spanien. Dies verursacht großen Kummer in den Familien.
Was Bersani arg zugesetzt hat, ist der Skandal bei der Bankengruppe
Monte dei Paschi di Siena. Das Geldhaus war jahrzehntelang vom
Partito Democratico und dessen Vorläufern, den Kommunisten und
Linksdemokraten beherrscht worden. Maßgebliche Aktionärin war eine
Stiftung, die von der Stadt Siena, eine Hochburg der Linken,
kontrolliert wurde.

Viele junge Leute wandern aus, um dem perspektivlosen Leben des
Prekariats zu entkommen. Wie ermutigen Sie Ihre Studenten?

Ginsborg: Meinen besten Studenten sage ich, sie sollen gehen. Mit
tiefstem Bedauern, denn ich lebe in Italien. Aber Tatsache ist, dass
die letzte Regierung Berlusconi, aber leider auch die Regierung
Monti, sich besondere Mühe gaben, die Schule und Universität in
Schutt und Asche zu legen. Ausscheidende Professoren werden nicht
ersetzt. Die renommierte Fakultät für Geschichte der Universität
Florenz etwa ist in den vergangenen fünf Jahren halbiert worden. Wir
erleben einen Verfall der Forschung, Lehre und Verwaltung. Das
eingestürzte Haus der Gladiatoren in Pompeji ist nur ein Beispiel des
kulturellen Niedergangs des Landes. Zahlreiche Museen wurden
geschlossen, Jahrtausende alte Kunstwerke sind unwiederbringlich
verloren. Die Kulturnation schafft es nicht, ihren größten Reichtum
zu bewahren. Es gab bereits zahlreiche Bekundungen von Empörung.

Eine Folge der Kürzungen ist, dass in vielen Schulen die Heizung
abgedreht wurde...

Ginsborg: Sowohl in Schulen als auch in Universitäten. Wir
unterrichten mit Mantel, unsere Studenten sitzen dort mit Mänteln.
Das ist unfassbar.

Der scheidende Ministerpräsident Monti hat Italien aus dem
Wirtschaftsdesaster geführt. In Deutschland ist er geschätzt. Wieso
ist es in Italien nicht der Fall?

Ginsborg: Monti hat Italien nicht gerettet. Die Staatsverschuldung
ist unter Monti gestiegen. Er konnte lediglich die Zinskosten
drücken. Die Schulden sind erdrückend, keine Regierung könnte sie je
begleichen.

Hat Monti sich durch die eingeführte Immobiliensteuer auf das
erste Haus besonders unbeliebt gemacht?

Ginsborg: Ich weiß es nicht. Härte war in Italien immer unbeliebt,
und Monti verspricht Härte. Er hat gewiss viel Wichtiges getan. Er
war ein hervorragender Botschafter für Italien, was eine enorme
Erleichterung nach der Performance Berlusconis war. Ich denke, Monti
war ein Meister darin, sich als der Retter der Nation zu verkaufen.
Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit unter ihm gestiegen und das Land
steckt nach wie vor tief in der Krise.

Der frühere Komiker Beppe Grillo kanalisiert mit seiner
Internetbewegung Fünf Sterne den politischen Unmut der Bürger.
Handelt es sich um gefährlichen Populismus?

Ginsborg: Das kommt aber nur bei einem Teil der Italiener an. Es
stimmt allerdings nachdenklich, dass Montis Koalition der Mitte viel
weniger Befürwörter hat. Grillo verkörpert den Protest gegen die
Korruption der Politiker, die Langsamkeit der Justiz, gegen all das,
was in Italien nicht funktioniert und nie funktioniert hat.

Eine Protestbewegung ohne Wahlprogramm?

Ginsborg: Was die politische Klasse betrifft, hat er allerdings
ein wahres Programm: Er will sie reduzieren, deren Gehälter stark
kürzen. Ein Wirtschaftsprogramm hat er nicht. Seine
Fünf-Sterne-Bewegung könnte in der Abgeordnetenkammer bis zu 100
Sitze erobern. Was wird dann passieren? Werden die Grillo-Anhänger
Italiens politische Sphäre verändern, oder wird die politische Sphäre
sie verändern? Ich tippe auf das Zweite. Auch die Anhänger der Lega
Nord kamen als ,,Revolutionäre" an die Macht, um päpstlicher als der
Papst zu werden.

Wie viel zählen die wenigen Oppositionsblätter gegenüber
Berlusconis Kontrolle von mehreren TV-Kanälen? Ist ein Wahlkampf
fair, wenn Medien nicht unparteiisch sind?

Ginsborg: Nein, der ist nicht fair. Ich denke, dass die Demokratie
eine vollkommen unausgewogene Ausgangsposition hat. Das
Wahlkampffeld, das für alle gleich sein sollte, war nie neutral.
Berlusconi hat viel zu lange zu viel unter seiner Kontrolle gehabt,
und das Mitte-Links-Lager war zu entgegenkommend. Selbst in diesem
Wahlkampf hat Bersani darauf verzichtet, Berlusconi zu attackieren.
Es wäre kontraproduktiv, behauptet dieser. Wie kann aber
kontraproduktiv sein, offenzulegen, dass die Möglichkeiten der
Kandidaten von vornherein im Ungleichgewicht sind? Berlusconi hat es
geschafft, vier mal präsenter im Fernsehen zu sein als jeder andere
Spitzenpolitiker. Und das nicht nur in seinen Sendern. Das ist
skandalös. Auch Europa hätte diesbezüglich nicht so zögerlich sein
sollen. Aber eins sollen wir nicht vergessen: Es war Helmut Kohl, der
Berlusconi maßgeblich verhalf, in die Europäische Volkspartei
aufgenommen zu werden. Und das ist eine große Verantwortung, denn
dadurch ist der Medienmogul von Anfang seiner Karriere an zu einem
achtenswerten Politiker gemacht worden.

Das Interview führte Fanny Pigliapoco



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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