"DER STANDARD"-Kommentar: "Lichtjahre von der Realität entfernt"
von Gerhard Mumelter
Geschrieben am 01-04-2013 |
Italiens Politik bleibt in ihrem byzantinischen Regelwerk
gefangen - Ausgabe vom 2. 4. 2013
Wien (ots) - Die eine römische Sedisvakanz ist mit der Wahl eines
neuen Papstes schon beendet. Die andere bleibt aber auf unbestimmte
Zeit bestehen - mit unvorhersehbaren Folgen. Die Wahlen Ende Februar
haben Italien in eine Sackgasse manövriert, aus der kein Ausweg
erkennbar ist. Mario Monti muss das Land, in dem die Rezession
anhält, wider Willen weiterregieren, obwohl er das Vertrauen der
meisten Italiener schon längst verloren hat. Ein neuer Premier, der
den festgefahrenen Karren flottmachen könnte, ist nicht in Sicht.
Zwischen den drei maßgeblichen Kräften scheint ein Dialog unmöglich.
Pier Luigi Bersani lehnt die von Silvio Berlusconi geforderte
Koalition ab. Beppe Grillo weist jede Vereinbarung mit Bersani
entrüstet von sich.
Dass ausgerechnet in dieser dramatischen Lage die Amtszeit des
Staatspräsidenten abläuft, erschwert die Situation zusätzlich.
Giorgio Napolitano - er wird in Kürze 88 - gilt als einzige
Integrationsfigur im zerrissenen Land. Um vorzeitige und womöglich
sinnlose Neuwahlen zu vermeiden, hat der Staatschef nun eine dubiose
Lösung aus dem Zylinder gezaubert: Ein Weisenrat soll den
verfeindeten Parteien wirtschaftliche und politische Reformkonzepte
und Lösungsvorschläge unterbreiten. Eine Verlegenheitslösung, um Zeit
zu gewinnen. Mehr nicht. Die störrischen Parteien wollen sich nicht
ans Gängelband nehmen lassen. Silvio Berlusconi fiebert, von Umfragen
beflügelt, neuerlichen Wahlen entgegen.
Dass sich im zehnköpfigen Weisenrat keine einzige Frau befindet,
demonstriert augenfällig, an welch byzantinischem Regelwerk sich
Italiens Politik noch immer orientiert. "In Italien könnte eine Frau
eher zum Kardinal gewählt werden als zur Staatspräsidentin", so die
ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino.
Die "institutionellen Regeln", nach denen Italiens erstarrte Politik
funktioniert, sind rigide und anachronistisch. So sind fast alle
Anwärter auf das Amt des Staatspräsidenten älter als 70 und waren
zuvor Regierungschef oder Senatspräsident. Und alle Präsidenten der
vergangenen Jahrzehnte wurden im Alter von rund 80 Jahren für eine
siebenjährige Amtszeit gewählt.
Kein italienischer Normalbürger begreift, warum Bersani einwöchige
Beratungen benötigte, um zu erfahren, dass Berlusconi ihm ohne
direkte Regierungsbeteiligung das Vertrauen verweigern würde. Und
warum verwendete er sechs Tage darauf, Grillo zu umwerben, wenn
dieser ihn herzhaft-derb als "Hurenbock" ablehnt?
Lichtjahre trennen die Politiker mit ihrem bizarren Kauderwelsch von
der Realität der Normalbürger. Niemand versteht, warum Bersani, Chef
des Partito Democratico, bei Napolitano für eine Vertrauensabstimmung
im Senat intervenierte, nachdem ihm Berlusconi und Grillo bereits die
Türe unmissverständlich vor der Nase zugeschlagen hatten. Bersani
hatte die Lega Nord ersucht, den Senatssaal vor dem Votum zu
verlassen, um so eine Mehrheit zu bekommen - Mauscheleien gegen
Zugeständnisse, wieder einmal.
Die Blockade nach den Wahlen vom Februar demonstriert nicht zuletzt,
dass sich die politische Lage in Italien erst dann normalisieren
wird, wenn Berlusconi die Szene verlässt. Erst dann wird eine große
Koalition nach dem Vorbild anderer europäischer Länder vorstellbar.
Doch davon ist Italien sehr weit entfernt: Der Cavaliere hat bereits
angekündigt, dass er auch bei den nächsten Wahlen antreten wird. Als
Spitzenkandidat natürlich.
Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445
Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom
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