Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum 95. Geburtstag von Helmut Schmidt: "Der Lotse geht noch nicht von Bord" von Reinhold Willfurth
Geschrieben am 22-12-2013 |
Regensburg (ots) - Mit diesem Gegenkandidaten hätte Angela Merkel
wohl um ihre Wiederwahl fürchten müssen. Sie hätte es ja auch mit dem
beliebtesten Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tun
gehabt. Fraglich ist nur, ob die SPD einen Kandidaten aufgestellt
hätte, der als Verfechter der Atomenergie gilt, die Macht der
Gewerkschaften einschränken will, die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit als unumgänglich sieht oder die multikulturelle
Gesellschaft als "Illusion von Intellektuellen" brandmarkt. Dies
alles und noch viel mehr unverzeihliche Dinge wie Dauerqualmen in der
Öffentlichkeit und regelmäßige Anfälle von Arroganz verzeihen
Sozialdemokraten wie überhaupt fast alle Deutschen dem Menschen gerne
- vorausgesetzt, er heißt Helmut Schmidt. Seit 31 Jahren ist der
Altkanzler "außer Dienst", wie er seine Autobiografie selbstironisch
genannt hat. Das stimmt natürlich nur halbwegs, denn 1982 hat Schmidt
ja nur seine Macht als Bundeskanzler an Helmut Kohl abgeben müssen.
Seit dieser Zeit ist sein Einfluss auf die bundesdeutsche
Gesellschaft aber nicht sehr viel kleiner geworden. Manche meinen
sogar, er habe heute mehr zu melden als in seiner Kanzlerzeit, als er
sich nicht nur mit Attacken der Union auseinandersetzen, sondern auch
Schläge von der eigenen Partei einstecken musste. Schmidt lässt die
Welt nicht nur wissen, dass sie es mit einem Weltökonomen von Rang zu
tun hat. Er ist auch als moralische Autorität unangreifbar geworden.
Man hört auf ihn, wenn er, wie vergangene Woche, die Waffenexporte
der deutschen Indus-trie anprangert. Helmut Schmidt ist zum Übervater
der Deutschen geworden. Kaum jemand kann es sich leisten, den Alten
nicht zu mögen. Damit hat Schmidt geschafft, was Willy Brandt
verwehrt geblieben ist, von Kanzlern wie Kurt-Georg Kiesinger oder
Ludwig Erhard ganz zu schweigen. Das liegt vor allem daran, dass
Schmidt sich nie an seiner Macht berauscht hat, sondern mit
preußischer Disziplin (und Härte) versucht hat, Probleme für sein
Land zu lösen. Davon gab es genug in Schmidts Amtszeit. Die
schlimmste Prüfung für ihn war die Schleyer-Entführung im deutschen
Herbst 1977. Den Tod Schleyers konnte er nicht verhindern, was ihm
bis heute zu schaffen macht. Umso wichtiger war für ihn das Zeichen
der Versöhnung, das ihm in diesem Jahr mit dem
Hanns-Martin-Schleyer-Preis zuteil wurde. Doch ob es nun die
Hamburger Sturmflut von 1962 war, die bleierne Zeit mit dem
Terrorismus der RAF oder der umstrittene Nato-Doppelbeschluss 1979 -
Helmut Schmidt überzeugte auch seine Gegner als integrer
Krisenmanager, der sich seine Entscheidungen nicht leicht machte und
sich stets treu blieb, mochten ihm Union und Jusos noch so sehr am
Zeug flicken. Natürlich konnte Schmidt auch kräftig austeilen - wen
die "Schmidtschnauze" attackierte, der hatte nichts zu lachen. Daran
hat sich bis heute nichts geändert. Schmidt ist so frei und mischt
sich im hohen Alter noch in die Tagespolitik ein, spricht hier der
Bundeskanzlerin finanzpolitisches Grundwissen ab, macht sich dort
Gedanken über die europäische Flüchtlingspolitik, gerne in gewohnt
abkanzelndem Ton. Man nimmt ihn gerne in Kauf. Moralische Autorität,
wie sie Schmidt verkörpert, ist in der etablierten Politik dünn
gesät. Heute feiert Helmut Schmidt in geistiger Frische seinen 95.
Geburtstag. Möge er uns noch lange auf die Nerven gehen.
Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de
Kontaktinformationen:
Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.
Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.
Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.
http://www.bankkaufmann.com/topics.html
Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.
@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf
E-Mail: media(at)at-symbol.de
503812
weitere Artikel:
- Stuttgarter Nachrichten: Kommentar zu von der Leyen in Afghanistan Stuttgart (ots) - Von der Leyen steht gelegentlich im Verdacht,
sich etwas übereifrig in Szene zu setzen. Bei ihrem Blitzbesuch in
Afghanistan muss man sie gegen diese Kritik in Schutz nehmen. Es war
reine Routine. Von einer Verteidigungsministerin wird schlicht
erwartet, dass sie sich zu Weihnachten bei der Truppe in Afghanistan
blicken lässt. Wenn von der Leyen weggeblieben wäre und es vorgezogen
hätte, im trauten Heim Weihnachten zu feiern, wäre sie angeeckt. Zu
Recht übrigens: In Afghanistan riskieren Hunderte von deutschen
Soldaten mehr...
- Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Chodorkowski Bielefeld (ots) - Michail Chodorkowski war kein Waisenknabe, als
er am 25. Oktober 2003 aus einem Privatflugzeug geholt wurde und für
zehn Jahre in Russlands Gulag verschwand. Am Freitag war der
50-Jährige ein anderer Mensch, als er in St. Petersburg einen
deutschen Privatjet bestieg, »und die Wachmannschaften zurücktraten«.
Eindrucksvoll hat der einstige Yukos-Chef diese Szene gestern in
Berlin beschrieben. Frei fühlte er sich erst, als er im Westen
landete.
Zugleich definierte er seine künftige Rolle gegenüber Wladimir
Putin. mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Ursula von der Leyen Osnabrück (ots) - Die Chefin der Kompanie
Dass erstmals eine Frau Verteidigungsministerin ist, schadet der
von Männern dominierten Bundeswehr sicherlich nicht. Ob jedoch Ursula
von der Leyen die richtige Besetzung für den Oberbefehlsposten ist,
muss sie erst beweisen. Eine gewisse Grundskepsis gegenüber Merkels
FlintenUschi, wie Spötter sagen, gibt es, auch außerhalb der
Bundeswehr. Ein Truppenbesuch in Afghanistan reicht allein nicht aus,
damit die Truppe Vertrauen in die Kompetenz der neuen
Verteidigungsministerin gewinnt. Doch mehr...
- Neue OZ: Kommentar zur Roten Flora Osnabrück (ots) - Den Investor freut's
Schuld sind immer die anderen. Nach der Eskalation in Hamburg
schieben sich Demonstranten und Polizei die Verantwortung für den
Gewaltexzess gegenseitig zu. Fest steht bis jetzt nur: Es war ein
trauriger Tag für Hamburg. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
wurde sträflich missbraucht, um ganze Stadtteile zu terrorisieren.
Den vermummten Krawallmachern ging es nicht um die "Rote Flora".
Ihnen ging es darum, ihre Zerstörungswut in einer pervertierten Form
des zivilen Ungehorsams auszuleben. mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Chodorkowski Osnabrück (ots) - Kein Konkurrent für Putin
Diplomatisch zurückhaltend hat sich der freigelassene
Kremlkritiker Michail Chodorkowski bei seinem Auftritt vor den
internationalen Medien im Berliner Mauermuseum gezeigt. Der wohl
weltweit prominenteste Ex-Häftling hielt sich mit offener Kritik am
russischen Präsidenten Wladimir Putin betont zurück, mehrfach wich er
geschickt in allgemeine Formulierungen aus und empfahl, die
Olympischen Winterspiele als reines Fest des Sportes zu betrachten.
Chodorkowski sendet mit seiner Ankündigung, mehr...
|
|
|
Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten
Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:
LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre
durchschnittliche Punktzahl: 0 Stimmen: 0
|