Mittelbayerische Zeitung: Ohrfeige aus Karlsruhe / Das Urteil zur Drei-Prozent-Hürde ärgert etablierte Parteien und sägt am Selbstverständnis des EU-Parlaments. Leitartikel von Hanna Vauchelle
Geschrieben am 26-02-2014 |
Regensburg (ots) - Denkbar knapp fiel das Urteil aus: Mit fünf zu
drei Stimmen kippte Karlsruhe die Drei-Prozent-Hürde bei den
Europawahlen. Damit ist der Weg für Freie Wähler, Piraten und NPD
frei. Die Begründung der Richter, dass die Stimme jedes Wählers die
gleiche Erfolgschance haben müsse, leuchtet ein. Verstörend ist
hingegen, was Karlsruhe vom Europaparlament zu halten scheint:
relativ wenig. Das Urteil ist eine Ohrfeige für die Straßburger
Kammer. 163 europäische Parteien tummeln sich derzeit im
Europaparlament. Das Wegfallen der Dreiprozenthürde dürfte nach der
Wahl sechs bis sieben weitere Gruppierungen aus Deutschland in die
Volksvertretung katapultieren. Was dies für die parlamentarische
Arbeit bedeutet, lässt sich vorausahnen. Die Kammer wird
zersplitterter, manche Entscheidungen werden schwieriger zu fällen
sein. Allerdings ist Panikmache fehl am Platz. Man kann davon
ausgehen, dass sich gemäßigte Gruppen wie die Freien Wähler oder die
ÖPD Fraktionen anschließen und Europa konstruktiv mitgestalten
werden. Tun sie dies nicht, wird es ihnen wie den Rechtsextremen und
den Populisten von NPD und AfD ergehen: Sie bleiben versprengte
Einzelkämpfer, deren Anliegen im babylonischen Brüssel kein Gehör
finden. Stimmen für diese Parteien sind also verlorene Liebesmüh.
Insofern können die etablierten Parteien den Wahlen gelassen entgegen
blicken. Dennoch: Auch wenn das Urteil in seiner jetzigen Form von
Beobachtern nicht anders erwartet worden war, muss der gestrige Tag
erst einmal verdaut werden. Denn Karlsruhe ärgert mit dem Aus der
Klausel nicht nur die etablierten Parteien, sondern sägt auch am
demokratischen Selbstverständnis des Europäischen Parlamentes. Das
tragende Argument für die Fünfprozenthürde bei Bundestagswahlen,
nämlich die Erhaltung der Handlungsfähigkeit, billigt Karlsruhe dem
Europaparlament nicht zu. Dahinter verbirgt sich folgender Gedanke:
Da die Straßburger Kammer im Gegensatz zum Bundesparlament keine
Regierung wählen müsse, könne es ja egal sein, ob Mehrheitsbildungen
möglich seien oder nicht. Sie haben an der Gesetzgebung zur
Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise mitgewirkt, wichtige
Änderungen bei der Haushaltsplanung durchgesetzt und die europäische
Landwirtschaftspolitik grüner gemacht. Europaabgeordnete, die den
Richtern vorwerfen, die politische Wirklichkeit zu verkennen, haben
Recht. Das Parlament ist seit dem Inkrafttreten des
Lissabon-Vertrages mächtiger und einflussreicher als je zuvor. Zudem
treten bei dieser Wahl die Parteien mit einem europäischen
Spitzenkandidaten an. Damit wird der Wähler zum ersten Mal darüber
abstimmen können, wer neuer Kommissionspräsident werden soll. Die
Ausrede vom Demokratiedefizit der EU zieht dieses Mal nicht mehr. Der
Ärger der etablierten Parteien über das Urteil ist also verständlich.
Letztendlich könnte sich die ganze Sache trotzdem als positiv
entpuppen. Denn der gestrige Richterspruch hat die Parteien
wachgerüttelt. Das lässt auf einen spannenden Wahlkampf hoffen, bei
dem endlich Europa in den Vordergrund gerückt wird. So wie vor fünf
Jahren darf es nicht noch einmal ablaufen, als es im Wahlkampf
lediglich um Innenpolitik ging und darum, die Regierung abzustrafen.
Die etablierten Parteien müssen jetzt die Chance nutzen, so viele
Wähler wie möglich zu mobilisieren. Eines ist klar: Je höher die
Wahlbeteiligung ausfällt, desto weniger Chancen haben die
Splitterparteien, ins Europaparlament einzuziehen. Vielleicht war der
ganze Ärger am Ende ganz umsonst.
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Mittelbayerische Zeitung
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