Mittelbayerische Zeitung: Die Zahl der Flüchtlinge weltweit steigt - und es liegt an den Industriestaaten, das zu ändern. Leitartikel von Christian Kucznierz
Geschrieben am 06-08-2014 |
Regensburg (ots) - Jetzt, in der Ferienzeit, haben die meisten
Menschen hierzulande nur einen Wunsch: dem Alltag zu entfliehen. Dass
es Menschen gibt, bei denen die Flucht der Alltag ist, das vergessen
wir. Dabei sind laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen
(UNHCR) derzeit mehr als 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Das
ist so, als wenn jeder zehnte EU-Bürger sein Zuhause verlassen
müsste. Die Industriestaaten müssen sich überlegen, wie sie mit
diesem Thema umgehen. So wie bisher sicher nicht. Denn die Zahl der
Flüchtlinge wird steigen. Auch, weil der Westen handelt, wie er
handelt. Entgegen aller Beteuerungen, die immer gerne mit Statistiken
belegt werden - auch in Deutschland, das mit 25 300 Asylanträgen im
vergangenen Jahr weltweit an der Spitze liegt - tun die westlichen
Staaten viel zu wenig, um das Leid der Menschen zu lindern. Im
Gegenteil: Die Schere zwischen armen und reichen Nationen und
Kontinenten klafft immer weiter auseinander. Die meisten Länder
Afrikas sind immer noch willkommene Absatzmärkte für
hochsubventionierte Lebensmittel aus der EU, während Fangflotten die
Fischbestände vor den Küsten leerfischen. Während Kriege und
Konflikte im Südsudan oder in der Zentralafrikanischen Republik
täglich Tausende von Menschen in die Flucht schlagen, ist der Westen
kaum fähig, so etwas wie Protestnoten zu verfassen. Abgreifen ja,
eingreifen eher nicht, lautet die Devise. Appelle der
Hilfsorganisationen laufen ins Leere. Gleichzeitig werden an den
eigenen Grenzen höhere Zäune aufgestellt und die Überwachung
ausgebaut. Wie untätig oder unfähig der Westen ist, zeigt sich am
Schicksal der Syrer, Somalier und Afghanen. Der jahrelange, blutige
syrische Bürgerkrieg hat neun Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt
- und die Welt schaut zu. Der Afghanistan-Krieg hat ebenso Millionen
von Menschen ins Ausland getrieben, und das, obwohl der Westen dort
interveniert hat, allerdings ohne Plan und mit der Folge, dass Krieg
und Terror das Land zu einem "failed state" machen könnten - was es
in traurige Verwandtschaft zu Somalia brächte, in dem bis heute Chaos
und Gewalt regieren. Die Weigerung der Industriestaaten, entschieden
gegen den Klimawandel vorzugehen, verschärft die Lage zusätzlich.
Während die Menschen in westlichen Staaten in verregneten Sommern
oder milden Wintern Anzeichen einer Klimaveränderung zu sehen
glauben, sind jahrelange Dürren oder regelmäßige verheerende
Flutkatastrophen in weniger entwickelten Teilen der Welt brutale und
existenzvernichtende Realität. Die Industrie- und vor allem die
Schwellenländer dürfen den Klimawandel nicht weiter als
mythologisches Wesen abtun, das in der Absicht beschworen wird,
wirtschaftliches Wachstum zu verhindern. Sonst werden sie in naher
Zukunft mit einer ungeahnten Zahl von Menschen konfrontiert werden,
deren Heimat entweder unfruchtbar wurde oder schlicht weggeschwemmt
worden ist. In einem sich abzeichnenden Jahrzehnt der Flucht wird es
nicht mehr reichen, vor der eigenen Haustüre zu kehren - und dann
einen Zaun davor zu stellen. Es braucht zumindest zeitlich begrenzt
andere Regeln für die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen. Es
braucht aber auch mehr Unterstützung für die Länder, die Menschen in
Not aufnehmen, obwohl sie selbst schon längst an ihre finanziellen
und logistischen Grenzen gestoßen sind. Wir denken globalisiert, wenn
es um wirtschaftliche Belange geht und sehen die Globalisierung dann
als Chance. Aber wir vergessen die Verantwortung, die sich daraus
ergibt. Das vielzitierte und genauso oft belächelte Bild der
Chaostheoretiker, in dem der Flügelschlag des Schmetterlings am
anderen Ende der Welt einen Tornado auslösen kann, ist längst schon
Realität.
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Mittelbayerische Zeitung
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