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Mittelbayerische Zeitung: Die Gretchenfrage - Pressefreiheit gibt es nur in einer funktionierenden Demokratie. Auf beides muss man achtgeben. Von Claudia Bockholt

Geschrieben am 02-05-2016

Regensburg (ots) - Rang 16 und 151: Welten liegen zwischen
Deutschland und der Türkei auf dem aktuellen Pressefreiheits-Index,
soeben vorgelegt von "Reporter ohne Grenzen". Dieses Rankings hätte
es gar nicht mehr bedurft nach dem zornigen Streit um Jan Böhmermanns
Spott-Gedicht. Man mag zu dem TV-Talker und seiner Satire stehen wie
man will: Er hat die Gretchenfrage gestellt. Wie halten wir's mit der
Freiheit der Meinung, der Rede, der Presse, der Kunst? Steht sie als
schützenswertes Gut über allem? Oder geben wir sie eilfertig dran,
weil ein Autokrat die Faust Richtung Europa ballt - wenn er uns nur
die Flüchtlinge vom Leib hält. In den vergangenen 15 Jahren ist die
Türkei im Pressefreiheits-Ranking von Rang 100 stetig nach unten
geklettert. Rund 2000 Strafanzeigen hat Erdogan gegen Journalisten,
Intellektuelle, Schriftsteller und Oppositionelle gestellt. Das
Auswärtige Amt rät Reisenden derzeit "dringend davon ab, in der
Öffentlichkeit politische Äußerungen gegen den türkischen Staat zu
machen". Einige deutsche Journalisten stehen auf einer schwarzen
Liste und dürfen am Bosporus nicht mehr arbeiten. Nur noch 28 Plätze
trennen die Türkei von Nordkorea. Deutschland ist gegenüber 2015 um
vier Plätze abgerutscht und findet sich jetzt in exotischer
Nachbarschaft: zwischen Luxemburg und Namibia. Der Downgrade ist eine
schmerzliche Entwicklung. Dass Freiheit immer die Freiheit der
Andersdenkenden sei, schien hierzulande schon zur Binse geworden.
Doch mit der Krim-Krise und danach der Flüchtlingswelle trat
überraschend wuchtig zu Tage, dass nicht alle Deutschen dieses
Freiheits- und Demokratieverständnis teilen. "Lügenpresse halt die
Fresse": Das Wutgebrüll erscholl anfangs ausgerechnet vom Osten her,
wo man die staatlich verordneten SED-Jubelorgien noch im Ohr haben
könnte. Die DDR-Propaganda gegen die "kapitalistische Lügenpresse"
scheint vergessen, sogar bei denen, die einst heimlich Westfernsehen
guckten. Bei Pegida-Demonstrationen wurden im vergangenen Jahr
Journalisten geschlagen, getreten, ihre Ausrüstung zerstört. Das
zählt mit zu den Gründen, warum es um die Pressefreiheit im eigenen
Land schlechter bestellt ist. Der deutsche Zeitungsmarkt ist der
größte Europas und der fünftgrößte weltweit. Kaum irgendwo auf der
Welt können Leser aus einer so breiten Palette wählen. Das Spektrum
reicht politisch von weit links bis weit rechts, von bieder bis
Boulevard, von intellektuell bis investigativ. Von einer
"Gleichschaltung" der deutschen Medien zu reden ist nicht nur falsch,
sondern fahrlässig. Die Vokabel stammt aus der Zeit, als in
Deutschland der Boden für eine mörderische Diktatur bereitet wurde.
Und "Lügenpresse" wurde nach dem 1. Weltkrieg, als es noch gegen die
Presse der Feinde ging, auch von den Nazis als propagandistische
Keule geschwungen, jetzt gegen das "Weltjudentum". Deutschland ist im
Jahr 2016 eine funktionierende Demokratie. Publizistische Fülle ist
so selbstverständlich wie das tägliche Brot. Vielleicht erfährt sie
deshalb nicht die Wertschätzung, die sie verdient. Man weiß immer
erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Noch so eine
Binsenweisheit. Vielleicht muss in der Türkei erst der letzte
kritische Journalist ins Gefängnis gewandert sein, bevor jeder
begriffen hat, dass etwas faul ist im Staate Atatürks. In Deutschland
darf gottseidank weiterhin in Leserbriefen, Leitartikeln, in Kneipen
und auf der Straße gestritten und gemotzt werden. Gerade notorische
Nörgler sollten gut auf unsere Demokratie aufpassen. Sie, hat der
verehrte Satiriker Ephraim Kishon gesagt, "ist bekanntlich das beste
politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann".



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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