Mittelbayerische Zeitung: Merkels Gefühl, Gabriels Kalkül - Zwei unterschiedliche Reaktionen auf das Berliner Wahldesaster - doch um die Macht kämpfen wollen beide. Von Reinhard Zweigler
Geschrieben am 19-09-2016 |
Regensburg (ots) - Nur auf den ersten Blick unterscheiden sich die
Reaktionen von Angela Merkel und Sigmar Gabriel auf das Wahldesaster
der Berliner Landtagswahl. Die Kanzlerin übernimmt die Verantwortung,
dass ihre Flüchtlingspolitik mit zum dramatischen Absturz der
Hauptstadt-CDU beigetragen hat. Selbst den Satz "Wir schaffen das"
mag die CDU-Vorsitzende heute nicht wiederholen. Zu vieles sei in
diese drei Worte hineinprojiziert worden, was sie niemals vermutet
und niemals beabsichtigt hätte. Merkel habe anspornen, Mut machen
wollen, dass die Herausforderung der Flüchtlingswelle gemeistert
werde. Doch in der "Realität der Gefühle", im Zeitalter des
"Post-Faktischen", in dem harte Fakten scheinbar nicht mehr zählten,
sei bei vielen Menschen das Gegenteil dessen eingetreten, was Merkel
bezweckt habe. Frust, sogar Hass: Merkel muss weg! Und deshalb
versucht es die einst umjubelte und nun so viel gescholtene Kanzlerin
jetzt eben mit Gefühlen. Ihr Gefühl sage ihr, dass wir aus dieser
"Phase" besser heraus kommen, als wir hinein gegangen sind. So
ähnlich hatte Merkel in der schweren Finanzkrise 2008/09 gesprochen.
Und ihr dürfte auch heute klar sein, dass sie ausgewiesene
Merkel-Kritiker - im Volk, in der CSU, erst Recht in der AfD - nie
und nimmer wird überzeugen können. Aber darum geht es ihr nicht
vordergründig. Merkel hat gestern, indem sie eigene Fehler und
Versäumnisse in der Flüchtlingskrise offen einräumte, zugleich ihren
Machtanspruch bekräftigt. Wer immer Angela Merkel aus dem Kanzleramt
verdrängen will, bekommt es mit einer klugen, strategisch denkenden
Politikerin zu tun. Den Kampf um die Macht hat Merkel nicht
aufgegeben. Sie hat ihn grade erst neu eröffnet. Und sie kann auch
Gefühl. Der andere Machtpolitiker, SPD-Chef Sigmar Gabriel, wählte
unterdessen einen anderen Weg. Statt wegen der Berliner Verluste in
Sack und Asche zu gehen, ließ er den kleinen SPD-Parteitag über den
heftig umstrittenen Freihandelsvertrag mit Kanada diskutieren. Doch
einen Eklat, wie noch bei seiner Wiederwahl im vorigen Dezember,
erlebte Gabriel diesmal nicht. Zwei Drittel des Parteikonvents seien
ihm gefolgt. Auf eine genaue Auszählung wurde allerdings verzichtet.
Merke: Mit geschickter Parteiregie können Erfolge gleichsam
vorprogrammiert werden. Innerparteiliche zumindest. Gabriels Kalkül,
das Handelsabkommen mit Kanada absegnen zu lassen und dies gleichsam
als Unterstützung seines Kurses auszugeben, ist voll aufgegangen. Der
SPD-Chef ist dabei, aus den Streitereien der beiden Unionsparteien
und aus Merkels Wackeln, Kapital zu ziehen. Und wer weiß, wenn die
Ergebnisse der Bundestagswahl im September 2017 für die beiden einst
so großen Volksparteien ähnlich mickrig ausfallen wie die der
Berliner Landtagswahl, dann könnte der umtriebige SPD-Chef vielleicht
doch noch irgendwie Kanzler werden. Zusammen mit den Grünen, den
Linken, der FDP, mit wem auch immer. So unterschiedlich Merkel und
Gabriel vom Naturell, von ihrem Werdegang und von ihren politischen
Positionen und Überzeugungen her sind, beide sind gewiefte Taktiker
der Macht und zugleich pragmatische Politiker. Und sie gehen beide
Risiken ein. So oder so. Ob die CDU-Chefin mit ihrer
Gefühls-Offensive bei ehemaligen Unionsanhängern, die heute bei der
Protest-AfD gelandet sind, wird zurück holen können, ist fraglich.
Gabriels möglicher Schwenk zu Rot-Rot-Grün im Bund 2017 ist es auch.
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