Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zum EU-Gipfel
Geschrieben am 21-10-2016 |
Regensburg (ots) - von Daniela Weingärtner, MZ
Die positive Brüssel-Meldung des Tages kam gestern nicht aus dem
Ratsgebäude, wo die 28 Regierungschefs zusammen saßen, sondern von
der anderen Straßenseite, aus dem Gebäude der EU-Kommission. Dort
unterzeichneten Finnlands Premierminister Juha Sipilä und
Kommissionschef Jean-Claude Juncker den 187 Millionen Euro schweren
Plan, Finnlands Gasversorgung via "Interkonnektor" mit Estland zu
verbinden - und damit Anschluss ans Versorgungssystem der anderen
EU-Staaten zu schaffen. Für Finnland, aber auch für die baltischen
Staaten, ist die Bedrohung seitens eines zunehmend unberechenbar
werdenden russischen Nachbarn stets präsent, die europäische
Solidargemeinschaft deshalb überlebenswichtig. Doch während im Rat
den ganzen Donnerstagabend über Russland geredet wurde, erklärte die
EU-Kommission zu dem Pipelineprojekt lediglich, dass nun Finnlands
Abhängigkeit "von einem einzigen Versorger" beendet sei. Dabei dürfte
Europas systematischer Ausbau eines von Russland unabhängigen
Energienetzes den Kreml wirksamer von außenpolitischen Zumutungen und
Erpressungsversuchen abhalten als jede Sanktionsdrohung. Die
allerdings brachten die EU-Chefs gestern ohnehin nicht zustande.
Schon um die Formulierung, sich "alle verfügbaren Optionen" offen zu
halten, wurde zäh gerungen. Die Mitgliedsstaaten sind derzeit so
zerstritten, dass es bei unter den Nägeln brennenden Fragen wie der
russischen Intervention in der Ukraine und Syrien, beim Thema
Einwanderung oder beim Schutz der gemeinsamen Außengrenzen so gut wie
keine Bewegung gibt. Stattdessen einigte man sich, die Kontrollen an
den Binnengrenzen für weitere sechs Monate zu erlauben. In der
gemeinsamen Schlusserklärung werden die Mitgliedsstaaten zwar
aufgefordert, Flüchtlinge aus Griechenland und Italien, vor allem
unbegleitete Minderjährige, schneller umzusiedeln. In einer Fußnote
aber wird Ungarn, der Slowakei und Polen praktisch der Freibrief
erteilt, sich daran nicht zu beteiligen. Populistische Bewegungen in
fast allen EU-Staaten machen die europäische Entscheidungsebene dafür
verantwortlich, dass sich die Welt immer schneller dreht und dabei
die geringer Qualifizierten und Unterprivilegierten am Wegrand
zurückbleiben. Der Antiglobalisierungsfrust, der auch zum britischen
Austrittsvotum viel beitrug, entlädt sich in den Niederlanden darin,
dass dort das Parlament das Assoziationsabkommen mit der Ukraine
ablehnt, was indirekt Russland zugute kommt. In der Wallonie wird
CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada gestoppt - das ursprünglich
nur vom Europaparlament hätte abgesegnet werden sollen. Die Parallele
zwischen dem Brexit, dem Zulauf für anti-europäische Bewegungen und
den Vorgängen in der Wallonie ist offensichtlich: In Brüssel regiert
die Überzeugung, dass Freihandel, Markt und Wettbewerb mehr Jobs
bringen. In strukturschwachen Regionen setzt man genau auf das
Gegenteil: Auf Zollschranken und Schutzklauseln für Arbeitnehmer, auf
staatliche Investitionen und üppige Sozialversicherungssysteme. Eine
Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene, wie sie ja
auch die Bundesregierung befürwortet, birgt die Gefahr, dass Europa
als Partner völlig unberechenbar wird. Länder wie Malta oder
Luxemburg, die nur ein Zehntel der Einwohner Walloniens haben,
könnten dem Beispiel folgen. Zypern könnte versuchen, Europas
Türkei-Politik in seinem Sinne zu manipulieren. Wenn die europäischen
Institutionen kein Mandat mehr haben, für 500 Millionen Europäer zu
verhandeln und zu entscheiden, dann ist die EU-Politik am Ende.
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Mittelbayerische Zeitung
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