Mittelbayerische Zeitung: Chance für Schulz / Der SPD-Politiker wechselt nicht ganz freiwillig nach Berlin. Doch dort könnte er nochmal durchstarten. Leitartikel von Daniela Weingärtner
Geschrieben am 24-11-2016 |
Regensburg (ots) - Was für eine Karriere! Mit 31 Jahren wurde
Martin Schulz jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens, später
zwei Mal Spitzenkandidat der SPD bei der Europawahl, 2014 sogar
Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten und Busenfreund des
Wahlsiegers Jean-Claude Juncker. Doch mit diesem seltsamen, so nur in
Europa möglichen "Wahlkampf" begann der Glanz des begeisterten
Europäers auf Brüsseler Parkett zu verblassen. Denn Schulz und
Juncker hatten sich bei unzähligen Podiumsdebatten und in unbequemen
Tourbussen so kennen- und liebengelernt, dass sie hinterher Europa am
Liebsten gemeinsam regiert hätten. Zu gern wäre Schulz wenigstens
Kommissar in Junckers Team geworden, doch Angela Merkel hielt an
Günther Oettinger fest - eine Entscheidung, die sie in den letzten
Wochen angesichts der Pannenserie des Schwaben vielleicht
gelegentlich bedauert hat. Doch die beiden Männer, die für das
Vereinte Europa schwärmen, blieben sich auch als Präsidenten zweier
unterschiedlicher EU-Institutionen eng verbunden, was der
Gewaltenteilung auf europäischer Ebene nicht immer gut bekam.
Zunehmend fühlten sich vor allem die kleinen Parteien im
Europaparlament ausgebootet und allzu oft vor vollendete Tatsachen
gestellt, die von Schulz und Juncker unter Ausschluss der
Öffentlichkeit ausgekocht worden waren. Bis zuletzt hatte sich
Juncker für eine dritte Amtszeit seines Weggefährten als
Parlamentspräsident eingesetzt - zum Ärger vieler seiner
CDU-Parteifreunde, die der Ansicht sind, nun seien die Konservativen
wieder einmal am Zuge. Heftiger Gegenwind, auch von Seiten der
kleinen Parteien, hat dann wohl auch zu Schulz' Rückzug geführt.
Gestern gehörte der Kommissionspräsident zu den ersten, die seinen
Wechsel nach Berlin bedauerten. Überrascht dürfte Juncker von der
Entscheidung aber nicht gewesen sein, denn es ist wahrscheinlich,
dass sich der in Berlin als Außenminister und vielleicht sogar als
SPD-Kanzlerkandidat gehandelte Schulz zuvor mit seinem Luxemburger
Freund beraten hat. Der im Dreiländereck zwischen Holland, Belgien
und Deutschland geborene Schulz hat lange gezögert und nie einen Hehl
daraus gemacht, dass er viel lieber EU-Parlamentspräsident bleiben
würde, als Außenminister in der Endphase einer großen Koalition zu
sein, die sich bereits im Wahlkampfmodus befindet. Auch der Job des
Kanzlerkandidaten hätte ihn wohl kaum aus Brüssel und Straßburg weg
gelockt. Schließlich gehört Angela Merkel noch immer zu den
beliebtesten deutschen Politikern, und die SPD verharrt im
Umfragetief. Natürlich ist die K-Frage in der SPD offiziell noch gar
nicht entschieden. Im Januar soll das Geheimnis gelüftet werden. Doch
der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Sigmar Gabriels Ankündigung,
seine Frau erwarte ihr zweites Kind, und dem Sinneswandel von Martin
Schulz lässt gewisse Rückschlüsse darauf zu, wie sich die Dinge
entwickeln könnten. Gabriel hat selbst unter einer unglücklichen
Kindheit gelitten und, wie Vertraute wissen wollen, nach der letzten
Bundestagswahl den Außenministerposten ausgeschlagen, um sich mehr
seiner Familie widmen zu können. Wenn alles gut läuft für Martin
Schulz, dann wird er sich nach der Weihnachtspause als
SPD-Kanzlerkandidat in den deutschen Wahlkampf stürzen. Fallen die
Würfel zu seinen Ungunsten, wird er als Spitzenkandidat des mächtigen
nordrhein-westfälischen SPD-Landesverbandes immerhin über eine
mächtige Plattform verfügen. Je nachdem, wie die Wahl ausgeht, könnte
ein Ministeramt oder der Fraktionsvorsitz dabei herausspringen.
Allemal besser, als sein Leben im Europaparlament als Hinterbänkler
zu fristen, in einem Haus, wo man fünf Jahre lang der Chef gewesen
ist.
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