Mittelbayerische Zeitung: Renzis Zitterpartie: Ein Ja zur Verfassungsreform
wäre ein Gewinn für Italien - und für Europa. Von Julius Müller-Meinigen
Geschrieben am 02-12-2016 |
Regensburg (ots) - Seit etwa 35 Jahren gibt es konkrete Pläne, das
umständliche parlamentarische System in Italien zu verändern.
Abgeordnetenhaus und Senat in Rom sind gleichberechtigte Kammern,
Gesetze pendeln vor ihrer Verabschiedung bis zu dreimal hin und her.
Regierungen sind auf das Vertrauen beider Parlamentskammern
angewiesen. Weil diese aber mit verschiedenen Systemen gewählt
werden, kämpft die Exekutive seit jeher mit unterschiedlichen
Mehrheiten. Auch deshalb brachte es Italien in den vergangenen 70
Jahren auf stolze 63 Regierungen. Die Italiener können diesem Leid am
kommenden Sonntag beim Referendum über die Verfassungsreform ein Ende
bereiten. Ein Ja zur Reform wäre auch ein Gewinn für Europa.
Jahrelang waren sich die politischen Kräfte einig, dass das
Zweikammersystem die drängenden Reformen erschwert. Einzelinteressen
verhinderten aber den großen Wurf. Stimmten die Italiener am Sonntag
für die Verfassungsreform der Mitte-Links-Regierung von
Ministerpräsident Matteo Renzi, würde Italiens Politik an Stabilität,
Kontinuität und Effizienz gewinnen. Der Senat soll künftig in etwa
die Rolle des deutschen Bundesrates übernehmen. Die Bundesrepublik
hat gute Erfahrungen mit ihrem parlamentarischen System gemacht.
Warum soll es Italien nicht ebenso gehen? Die Gegner von
Ministerpräsident Matteo Renzi erkennen in der Abstimmung eine ganz
andere Chance. Sie hoffen, den 41-jährigen Premier loszuwerden, und
könnten mit diesem Ansinnen durchaus Erfolg haben. Renzi hat die
Verfassungsreform mehrfach als Kern seiner Reformpläne bezeichnet,
eine Niederlage beim Referendum wäre auch eine persönliche Schmach.
Ironischerweise hat sich Renzi diesem Risiko ohne Not selbst
ausgesetzt. Beide Parlamentskammern hatten der Verfassungsreform
bereits in letzter Lesung zugestimmt. Der Premier und seine Berater
veranlassten im April aber die Volksabstimmung, weil sie angesichts
guter Umfragewerte vom Plazet der Italiener überzeugt waren. Mehr
noch, Renzi versprach sich vom sicher geglaubten Ja der Italiener
einen zusätzlichen Schub für seine Politik. Dieser Plan droht zu
scheitern. Die jüngsten Umfragen haben gezeigt, dass die Gegner der
Reform in der Überzahl sein könnten. Nach dem ehemaligen britischen
Ministerpräsidenten David Cameron könnte Renzi der zweite europäische
Regierungschef sein, den eine politische Wette das Amt kostet.
Cameron setzte die Brexit-Abstimmung im Juni aus Kalkül an, weil er
überzeugt davon war, die Briten würden für den Verbleib in der EU
stimmen. Renzi kalkulierte ähnlich riskant. Volksabstimmungen, so
lautet die Lehre, dürfen nicht aus politischem Kalkül missbraucht
werden. Renzi kämpft nun um seine politische Existenz. Sollte er
wider Erwarten als Sieger aus der Abstimmung hervorgehen, ist dennoch
nicht alles im Lot. Die veränderte Verfassung macht das Regieren
künftig einfacher, der Regierungschef benötigt künftig nur noch das
Vertrauen des Abgeordnetenhauses. Da das neue italienische Wahlgesetz
die Bildung von Koalitionen ausschließt und den eindeutigen Sieg
sogar per Stichwahl zuerkennt, bekommt die Rolle des Premiers künftig
extremes Gewicht. Dass Renzi überschnappt, ist nicht zu erwarten.
Doch die Alternativen sind unwägbar. Italien hat Benito Mussolini und
Silvio Berlusconi erlebt. Man kann wohl von Glück reden, dass sich in
naher Zukunft mit Beppe Grillo und seiner 5-Sterne-Bewegung nur ein
Komiker anschickt, Italien zu verändern. Auch Extremisten hätten
leichteres Spiel. Renzi muss deshalb im Falle der Bestätigung der
Verfassungsreform dringend das erst vor Monaten verabschiedete
Wahlgesetz wieder ändern. Setzen sich die Gegner der Reform durch,
sind viele Szenarien denkbar. Ein Rücktritt Renzis wäre
wahrscheinlich. Darüber, wie sehr die italienische und auch die
europäische Wirtschaft von politischen Wirren in Rom in
Mitleidenschaft gezogen würden, kann nur spekuliert werden. Von
stabilen Verhältnissen sind die Wirtschaft und das Bankensystem in
Italien jedenfalls weit entfernt.
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