Landeszeitung Lüneburg: "Klare Kante und einfach mal arbeiten" - Interview mit dem Politologen Dr.Gero Neugebauer
Geschrieben am 19-10-2018 |
Lüneburg (ots) - Sigmar Gabriel warnt seine SPD davor, aus der
Großen Koalition auszusteigen, und damit "eine neue Regierungskrise
auszulösen". Dies mache Deutschland bestimmt nicht stabiler. Hat er
recht?
Dr. Gero Neugebauer: Ja, eindeutig. Wenn ein Landesverband der
SPD, der ohnehin schon seit Jahren schwache Leistungen bietet, noch
schlechter abschneidet, ist das kein Grund, darüber nachzudenken, die
Große Koalition aufzugeben - vor allem dann nicht, wenn die Gründe,
die dafür gesucht werden, eher in der SPD zu finden sind. Gabriel
sagt auch, dass der Ausgang der Bayernwahl eine Quittung sei für den
Regierungsstil in Berlin. Der "Irrsinn" mit dem Streit zwischen
Merkel und Seehofer habe alles überdeckt. Wer so miteinander umgehe,
müsse sich nicht wundern, wenn die Wähler in Scharen davonlaufen
würden. Warum laufen sie auch der SPD davon? Die SPD ist Teil der
Regierung. Diese Regierung wird durch Frau Merkel repräsentiert. Die
SPD konnte den Streit innerhalb der Koalition zwischen Frau Merkel
und Herrn Seehofer nicht schlichten. Wenn sie es versucht hat - zum
Beispiel beim sogenannten Masterplan Seehofers - hat sie allenfalls
einen Trostpreis geerntet wie das Vorziehen der Diskussion über das
Einwanderungsgesetz von 2019 auf 2018 oder die Umbenennung der
Transitzentren. Was ist das für Erfolg? Ein anderes Beispiel ist ein
Konflikt, der im Wesentlichen dadurch hervorgerufen wurde, dass ein
dem Innenministerium unterstehender Beamter seine Neutralitätspflicht
als Beamter und seine Loyalitätspflicht gegenüber der Kanzlerin
verletzte. Die SPD erweckte auch mit der Forderung nach dem Rücktritt
Maaßens eher den Eindruck, Teil des Streits zu sein. Sie hat es
versäumt, sich klarer abzusetzen und zu verdeutlichen: Wenn die
anderen nicht endlich aufhören zu streiten und anfangen zu arbeiten,
werden wir uns überlegen, aus der Koalition auszusteigen.
Die SPD hat schon nach der schweren Schlappe bei der
Bundestagswahl eine Erneuerung angekündigt. Erkennen Sie richtige
Ansätze?
Neugebauer: Die Ansätze sind zum Beispiel in der Organisation zu
erkennen. Wichtiger ist, dass es einen sogenannten Debattenprozess
gibt: Die Parteimitglieder sind aufgefordert, über vier Themen zu
diskutieren. Das ist ein Ansatz, die Mitglieder stärker in die
Diskussion über die Ziele und die programmatische Parteiarbeit
einzubinden. Es ist auch kein Fehler, zum Beispiel in der
Rentenpolitik Perspektiven für 2040 zu entwickeln. Damit macht man
deutlich, dass man sich nicht nur auf das Tagesgeschäft
konzentriert, sondern schon an die nächsten Regierungen denkt.
Sind Andrea Nahles und Olaf Scholz eher Teil des alten Problems
oder Teil der Erneuerung?
Neugebauer Andrea Nahles ist Teil des alten Problems und Teil der
Erneuerung. Olaf Scholz ist Teil des alten Problems, aber nach meiner
Einschätzung weniger ein Teil der Erneuerung. Als Finanzminister
setzt er den Kurs der schwarzen Null seines Vorgängers Wolfgang
Schäuble fort, ohne deutlich zu machen, was sozialdemokratische
Politik sein sollte und muss: Investitionen in bestimmte Bereiche wie
Bildung, um die soziale Spaltung der Gesellschaft zu reduzieren. In
der Finanzpolitik sollte der Aspekt der Gerechtigkeit deutlicher
werden - zum Beispiel über eine Entlastung von Alleinerziehenden.
Wobei es erstaunlich ist, dass sich die SPD so lange um so etwas
herumgedrückt hat. Hinzu kommt noch, dass Frau Nahles gerade in einem
Interview angedeutet hat, dass sich die SPD möglicherweise von
zentralen Aspekten der Agenda-2010-Politik trennen muss. Sie hat mit
Herrn Scholz aber jemanden gegenüber, der die Agenda 2010 als
SPD-Generalsekretär heftig verteidigt hatte.
Die Bundesregierung müsse die Kraft für einen Neustart finden -
unabhängig vom Ausgang der Wahl in Hessen, meint Gabriel. Wird die
Kanzlerin noch genügend Rückhalt haben, wenn Volker Bouffier seinen
Sessel räumen muss?
Neugebauer: Wenn Volker Bouffier den Sessel räumen muss, weil er
nicht mehr in der Lage ist, die neue Regierung anzuführen, dann ja.
Wenn nicht, dann nein. Derzeit ist die Situation ambivalent. Auf der
einen Seite erzielt die Kanzlerin in Umfragen keine guten Werte. Und
es mehren sich die Diskussionen über Merkel in der dritten und
vierten Reihe. Doch aus der Führungsriege gibt es keinen direkten
Gegenwind. Wolfgang Schäuble warnt davor, die Kanzlerin zu schwächen.
Die Ergebenheitsadressen, die nach der Bayern-Wahl auf Frau Merkel
niederprasseln, sind eine Warnung: Wenn ihr Ambitionen in Richtung
Parteivorsitz haben solltet, haltet euch zurück, es ist nicht der
richtige Zeitpunkt dafür. Etwas anders sieht das Horst Seehofer. Ein
"Neustart" zwischen seiner CSU und der großen Schwester CDU sein
nicht nötig. Insgesamt liefe es ganz gut. Wie einsam wird es um
Seehofer? Herr Seehofer nutzt jede Chance, sich als Unikat
darzustellen. Es ist nie ganz sicher, ob er sich oder seine Partei
meint, wenn er davon spricht, dass bestimmte Zustände so sind wie sie
sind und er sich als möglicher Verursacher ausblendet. Das Orakel von
Delphi ist genau so sicher wie die Aussagen von Seehofer. Und man
weiß, dass die Damen seinerzeit leicht berauscht waren, wenn sie
etwas vorhergesagt haben. Kanzlerin Angela Merkel hat das schlechte
Abschneiden von CSU und SPD in Bayern auf den Vertrauensverlust der
Bürger in die Politik zurückgeführt. Was sollte umgehend angegangen
werden, um Vertrauen wieder aufzubauen? Das verloren gegangene
Vertrauen in die Regierungsfähigkeit ist nicht so sehr durch das, was
sie gemacht hat, hervorgerufen worden, sondern vor allem, weil sie
das dargestellt hat, was sie nicht hätte machen können. Es darf nicht
länger sein, dass der Regierung im In- und Ausland
Handlungsunfähigkeit attestiert wird. Die Regierung muss nun klar
stellen: Wir fangen an zu arbeiten. Was sie dann macht, ist zunächst
relativ egal. Denn die Ursachen des schlechten Abschneidens war das
miserable Image, das sie selbst produziert hat.
Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann betont: "Wenn wir in der
Großen Koalition jetzt nicht endlich die Kurve bekommen, war's das
mit den Volksparteien." Hat er recht oder muss man schon jetzt
fragen: Welche Volksparteien?
Neugebauer: In den 1960er-Jahren war die Vorstellung ganz klar:
Eine Volkspartei kann große gesellschaftliche Gruppen unter einem
ideologischen Dach vereinen. Sie kann allen relevanten
gesellschaftlichen Gruppen programmatische Angebote machen, kann
ihre Interessen aufnehmen und in den politischen Prozess einbringen.
Das setzt voraus, dass wir große homogene Gruppen haben: Der
gewerkschaftlich organisierte Arbeiter wählt die SPD, der christlich
überzeugte Wähler die Union, der Mittelständler die FDP. Diese Zeiten
sind seit dem Auftauchen der Grünen, spätestens aber seit der Wende,
vorbei. Der ökonomische Fortschritt und der dadurch hervorgerufene
soziale Wandel haben zu unterschiedlichen Lebensstilen und Milieus
geführt. Heute ist es viel schwieriger geworden, diesen Milieus
Angebote zu machen und sie an sich zu binden. Der Begriff Volkspartei
wurde von Parteien benutzt, um ihren Anspruch zu legitimieren, der
aber weder ihre Fähigkeit noch die Wirklichkeit widerspiegelte. Es
gab Parteien, die sagten, wir bekommen Stimmen aus allen sozialen
Gruppen und sind deshalb Volkspartei. Eine andere Partei sagte, wir
können Regierungen anführen, deshalb sind wir eine Volkspartei. Man
kann negativ fragen: Was sind diese Parteien sonst? Klassen-Parteien?
Massen-Parteien? Demokratische Massen-Legitimationsparteien? Der
Begriff Volkspartei ist von der Wirklichkeit längst überholt worden.
Die CSU hat in Bayern bewiesen, dass sie keine Volkspartei mehr ist:
Ihr gelingt es nicht, in der städtischen Bevölkerung Mehrheiten zu
bekommen. Sie ignoriert, dass sich durch den sozialen Wandel und den
wirtschaftlichen Erfolg die Interessenlagen der Gesellschaft
ausdifferenziert haben. So verlor sie in bestimmten
Bevölkerungsgruppen an Zustimmung.
Besteht die Gefahr, dass die Bundesrepublik auf Weimarer
Verhältnisse zusteuert oder sollte man das Erstarken der
Rechtspopulisten und die Schwächen der großen Parteien gelassener
sehen?
Neugebauer: Einen Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und
Erinnerung an Weimarer Verhältnisse würde ich nicht herstellen. Für
mich ist der Zusammenhang eher das Bekenntnis zum demokratischen,
sozialen Rechtsstaat als Handlungsrahmen für Politik und das
Bekenntnis zum Grundgesetz. Die Weimarer Republik ist zugrunde
gegangen, weil die großen Parteien - mit Ausnahme der
Sozialdemokraten - nicht bereit waren, diese Republik zu verteidigen.
Heute ist Rechtspopulismus eine Strömung, die teilweise auch durch
Impulse aus dem Ausland gesteuert wird. Zugleich haben wir in
Deutschland politische Einstellungen, die gespeist werden aus Skepsis
gegenüber verschiedenen Entwicklungen. Dazu gehört die Globalisierung
von Arbeitsmärkten. Dazu gehören auch das Auftauchen von Flüchtlingen
und die damit verbundene Behauptung, dies bedrohe unsere kulturelle
und nationale Identität. Dazu gehört auch, dass Politik für manche
Bürger zu unübersichtlich geworden ist. Es gibt also unterschiedliche
Ursachen für Rechtspopulismus. Er ist generell in Teilen der
Gesellschaft vorhanden. Das ist tolerierbar, solange sich
Rechtspopulismus als politische Bewegung versteht, die versucht,
einfache Antworten zu geben, die sich auf übersteigerten
Nationalismus konzentriert. Der Rechtspopulismus wird aber dann zum
Problem, wenn er übergeht zu Einstellungen, die eindeutig rassistisch
sind, die antisemitisch sind, die einen völkischen Nationalismus
predigen, der mit Demokratie nichts zu tun hat, sondern einen
Führerstaat propagiert und Gewalt in der politischen
Auseinandersetzung nicht ausschließt. Dann haben wir eine
Entwicklung, die in manchen Zirkeln, die mit der AfD verknüpft oder
schon in ihr beheimatet sind, schon zu beobachten ist.
Die AfD ist bei der Landtagswahl unter dem Bayern-Ergebnis der
Bundestagswahl geblieben. Stößt Rechtspopulismus allmählich an seine
Grenzen?
Neugebauer: In Bayern gibt es eine besondere Situation: Die Freien
Wähler sind in bestimmten Punkten moderater als die AfD. Sie
repräsentieren die heimattreue Fraktion der bayerischen Wähler und
lässt so das Problem der verlorenen Identität in den Hintergrund
treten. Auf Bundesebene sieht es leider anders aus. Generell gilt
aber: Die AfD ist dann ein Problem, wenn nicht genau die Probleme
beseitigt werden, die die AfD groß gemacht haben. Dazu brauchen wir
Politiker, die klare Kante zeigen. Und wir brauchen eine
Zukunftsperspektive für Deutschland, die die Auswirkungen nationaler
und internationaler Entwicklungen transparent macht und darauf
Antworten gibt.
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell
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