Kölner Stadt-Anzeiger: Historiker Winkler: "Was Boris Johnson macht, ist ein selbst herbeigeführter Notstand"
Geschrieben am 20-09-2019 |
Köln (ots) - Der Historiker Heinrich August Winkler sieht negative
Folgen für die EU nach einem Austritt Großbritanniens voraus. Es
bestehe die Gefahr eines kontinentalen Protektionismus. "Solange
Großbritannien Mitglied der Europäischen Union war, konnten die
Bundesrepublik Deutschland, die Niederlande und andere Länder, die
haushaltspolitisch besonders soliden Staaten, sich immer darauf
verlassen, dass sie sich, wenn es um Fragen der Wettbewerbs- oder
Ordnungspolitik ging, auf Großbritannien verlassen konnten. Nun wird
es in Zukunft für eher protektionistisch gestimmte Mitgliedstaaten
sehr viel leichter, die währungs- und wirtschaftspolitisch stabilen
Staaten in einen Minderheitsstatus zu versetzen", sagte Winkler dem
"Kölner Stadt-Anzeiger" (Freitag-Ausgabe). Die Sperrminorität des
sogenannten D-Mark-Blocks innerhalb der EU gebe es nicht mehr. "Das
ist eine tiefe Zäsur". Der Verfasser des vierbändigen Werkes "Die
Geschichte des Westens" übte zugleich scharfe Kritik am britischen
Premier Boris Johnson. Dass dieser das britische Parlament fünf
Wochen in Urlaub schickte, habe mit parlamentarischer Streitkultur
"nichts mehr zu tun. So kann man in einem Notstand agieren. Aber das,
was Johnson macht, ist ein selbst herbeigeführter Notstand, und
insofern trägt er auch die Verantwortung für die Folgen." Die beiden
klassischen westlichen Demokratien, die Vereinigten Staaten von
Amerika und das Vereinigte Königreich, seien derzeit keine besonders
überzeugenden Beispiele für die Überlegenheit der repräsentativen
Demokratie und des politischen Pluralismus, so Winkler weiter. Trump
und Johnson stützten sich auf ein breites populistisches Ressentiment
in der Bevölkerung. Populistien spielten sich heute "als Gralshüter
der Demokratie" auf. "Sie vergessen nur, dass Demokratie mehr ist als
Mehrheitsherrschaft, nämlich die Beachtung von Spielregeln, von
Checks and Balances, von Gewaltenteilung und Streitkultur, was eben
auch die Rechte der Opposition einschließt." Er sei sich jedoch
sicher, "dass die möglichweise nur kurzlebige Regierung unter Boris
Johnson nicht das Ende der parlamentarischen Demokratie in
Großbritannien bildet."
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