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Alarmierend hohe Bußgelder und fehlende Rechtsstaatlichkeit / Experten sehen großen Reformbedarf im europäischen Kartellrecht

Geschrieben am 15-10-2008

Berlin (ots) - Mit spektakulär hohen Bußgeldern geht die
Europäische Kommission gegen illegale Kartellabsprachen in der EU
vor. Unlängst erwischte es das so genannte Paraffin-Kartell. 676
Millionen Euro müssen die beteiligten Firmen in die EU-Kasse zahlen.
Im vergangenen Jahr traf es die führenden Aufzugshersteller, die
zusammen fast eine Milliarde Euro an Bußgeldern entrichten mussten.
Allein gegen ThyssenKrupp verhängte die Kommission ein Strafgeld von
479 Millionen Euro. Die Sanktionen wurden nach Beobachtung von
Experten in den vergangenen Jahren erheblich verschärft. Zwischen
2005 und 2007 verdreifachte sich der erhobene Gesamtbetrag.

Fachleute sind nicht nur wegen der Höhe der Bußgelder alarmiert.
Vielmehr weist das europäische Kartellrecht nach Ansicht vieler
Experten gravierende Mängel auf. "Die Forderung nach einer
Überprüfung der Kartellrechtsordnung ist sinnvoll und angemessen",
räumte auch der frühere Generaldirektor der Generaldirektion
Wettbewerb der EU-Kommission, Dr. Alexander Schaub ein, der gemeinsam
mit Unternehmensvertretern, Rechtspolitikern und Juristen am 14.
Oktober 2008 in Berlin in der Deutschen Parlamentarischen
Gesellschaft auf Einladung des Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Rupert
Scholz und der Internationalen Handelskammer (ICC) Deutschland die
rechtlichen und politischen Fragezeichen der europäischen
Kartellverfolgung diskutierte.

Fehlende Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens

Der bekannte Europarechtler Prof. Dr. Jürgen Schwarze und Anwälte
der Kanzlei Gleiss Lutz haben die kritischen Punkte des Kartellrechts
in einer Studie unter die Lupe genommen. Die Untersuchung weist
zahlreiche Schwächen der derzeitigen Praxis nach. Zum Verständnis
hilft ein Blick auf das übliche Verfahren. Kartelle sind naturgemäß
verschwiegene Gemeinschaften. Mit einer Kronzeugenregelung will die
Gemeinschaft die illegalen Zirkel knacken. Das erste geständige
Kartellmitglied geht straffrei aus. Sich selbst bezichtigende weitere
Unternehmen erhalten einen Nachlass auf das Bußgeld. Die Kommission
darf die Höhe des Bußgelds frei festlegen. Der Rahmen reicht bis zu
zehn Prozent des Umsatzes eines Unternehmens oder Konzerns.
Theoretisch könnten Großunternehmen so mit Milliardenbeträgen
sanktioniert werden. Die betroffenen Firmen können gegen einen
Beschluss der Kommission nur eingeschränkt vorgehen und beim Gericht
erster Instanz des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg
klagen. Doch die Richter prüfen nicht die zugrundeliegenden Fakten
nach, sondern nehmen nur eine eingeschränkte Prüfung vor, ohne den
Sachverhalt selbst zu erforschen. Gleiches gilt für den EuGH selbst
als die nächste und gleichzeitig letzte Instanz.

Die Studie von Gleiss Lutz bemängelt die unpräzisen gesetzlichen
Grundlagen des Kartellbußenrechts. Die Kriterien für die Bemessung
der Bußgelder seien zu unbestimmt und es gebe keine ausreichenden
rechtlichen Grundlagen für die Haftung der Muttergesellschaften für
Tochterunternehmen. Auch die Kronzeugenregelung halten die Juristen
für fragwürdig, weil die anderen Kartellmitglieder faktisch zur
Selbstbelastung gezwungen werden, um höheren Strafen zu entgehen.
Auch die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen
wird von den Experten beanstandet. Der Mit-Autor der Studie, Prof.
Dr. Jürgen Schwarze, fordert daher eine Reihe von Reformen des
geltenden Rechts. Dazu gehören Vorschriften für die Höhe der
Bußgelder, das Erfordernis des Nachweises eines Verstoßes gegen das
Kartellverbot durch bestimmte Mitarbeiter. Auch sollten
Compliance-Programme, mit denen Firmen Rechtsverstöße verhindern
wollen, strafmildernd berücksichtigt werden. Vor allem aber setzt
sich die Analyse für ein rechtsstaatliches Verfahren ein, bei dem die
EU-Kommission als Ankläger auftritt, ein Gericht die Tatsachen des
Einzelfalls prüft und Bußgelder festlegt. "Es sollte ein neues,
zweistufiges Verfahren eingeführt werden", verlangte Schwarze.

Panel-Diskussion von Experten zeigt Reformbedarf auf

Über den Reformbedarf besteht weitgehende Einigkeit unter den
Fachleuten. "Wir sind der Meinung, dass das europäische Kartellrecht
auf den Prüfstand gehört", erläuterte Scholz. Auch das
Rechtsausschussmitglied im Europäischen Parlament, Klaus-Heiner Lehne
sieht "einen rechtsstaatlichen Nachbesserungsbedarf". Der
EVP-Abgeordnete plädierte für eine eigenständige Kartellbehörde in
Europa nach dem Vorbild des deutschen Bundeskartellamts und eine
Debatte über die Einführung eines Straftatbestands der
Kartellbildung. Damit könnten Vergehen auch mit Freiheitsstrafen
geahndet werden. In den USA ist dies gängige Praxis. Auch eine
Berücksichtigung der Compliance-Programme bei der Strafzumessung
findet Lehne wichtig.

Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Bundestag, Jürgen Gehb, kritisierte die fehlenden rechtsstaatlichen
Grundlagen des Kartellbußenrechts. Es gehe nicht um die Höhe der
Bußgelder. Aber sie müssten auf rechtsstaatlichem Wege durchgesetzt
werden, sagte Gehb. Klaus Becher, Chefjurist bei Daimler Financial
Services und stellvertretender Vorsitzender des
BDI-Wettbewerbsauschusses, beklagte ebenfalls Gesetzesmängel. Es gebe
kein Verständnis dafür, dass das Gericht erster Instanz keine Prüfung
der Tatsachen vornehme. "Das muss sich ändern", forderte Becher.

Mittelalterliche Sippenhaft

Für erheblichen Ärger sorgt in der Wirtschaft auch die Haftung der
Muttergesellschaft für Verfehlungen in Tochterunternehmen. "Das
entspricht der mittelalterlichen Sippenhaft", stellte der Chefjurist
des Konzerns Total SA, Dr. Peter Herbel, fest. Im Strafrecht werde
auch nicht nach der Mutter oder dem Vater des Täters gefahndet,
sondern nach dem Täter selbst. Total ist über eine untergeordnete
Tochtergesellschaft gerade selbst von Strafzahlungen im
Paraffin-Kartell-Verfahren betroffen. Das Bußgeld betrage das 7-fache
des Jahresumsatzes der Firma und das 40-fache des Gewinns, beklagte
Herbel eine hohe Strafzumessung der Kommission. Den Durchgriff der
Kommission auf das gesamte Unternehmen hält auch Dr. Klaus Moosmayer
für fragwürdig. Der Leiter des Compliance-Programms der Siemens AG
hält eine durchgängige Kontrolle aller Beschäftigten in großen
Unternehmen für unmöglich. "Fehlverhalten wird es immer geben",
befürchtete Moosmayer. Die Bemühungen der Konzerne, Verstöße zu
verhindern, müssten daher berücksichtigt werden. Prof. Dr. Karl
Hofstetter, Chefjurist und Verwaltungsratsmitglied der Schweizer
Schindler Holding AG, fordert zudem die Bestrafung einzelner Täter.
"Wenn das Unternehmen alles getan hat, um Verstöße zu verhindern,
dann muss der Einzeltäter ran", verlangte Hofstetter.

Bußen schrecken ab - aber Bußpraxis ist zu überprüfen

Der ehemalige Generaldirektor Wettbewerb der Kommission Schaub
warb auch um Verständnis für das harte Vorgehen der Kommission. Lange
Zeit hätten Kartellverstöße als Kavaliersdelikt gegolten und seien
praktisch nicht verfolgt worden. Die Kommission habe diese Aufgabe in
die Hand genommen. Der Experte hob die abschreckende Wirkung hoher
Bußgelder hervor. "Das hat in den Unternehmen zu einschneidenden
Veränderungen geführt", verteidigte Schaub die Strafzahlungen.
Trotzdem sei inzwischen eine Überprüfung der Praxis notwendig. Auch
das Bundeskartellamt hält das Kartellrecht für ein scharfes Schwert.
Die Kronzeugenregelung sei "extrem effektiv" und die Höhe der
Bußgelder schrecke ab, betonte ein Behördenvertreter.

Zusammenfassend mahnte Prof. Scholz, dass die Effektivität der
Kartellbekämpfung nicht als Legitimation dafür dienen dürfe, den
Rechtsstaat zu unterlaufen.

Originaltext: Internationale Handelskammer (ICC) Deutschland
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/73187
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_73187.rss2

Pressekontakt:
Gleiss Lutz
Dr. Wolfgang Bosch
Mendelssohnstraße 87
60325 Frankfurt am Main
069 95514 535


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