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Berliner Morgenpost: Demos und Gipfeltreffen: Neue Zeiten, alte Rituale - Kommentar

Geschrieben am 27-03-2009

Berlin (ots) - Sie ziehen heute durch Berlins Mitte, durch
Frankfurt und London. Nächste Woche, zum Nato-Jubiläum, ist dann
Straßburg dran samt Kehl am Rhein. Protest formiert sich einmal mehr
gegen das politische Welt-Establishment, Protest, dem seit Jahren die
Immergleichen ein Gesicht geben. Gewerkschaften, Attac-Mitglieder,
Linke. Routiniert, als gäbe es nichts Neues, Geplänkel im Vorfeld,
auch die immer gleiche Frage: Bleibt es denn einigermaßen friedlich?
Wenn nicht, wird man hinterher wieder streiten, ob die Polizei nicht
vielleicht doch provoziert habe, durch pure Anwesenheit
beispielsweise. Oder war's doch eher der "schwarze Block"? Man kennt
das ja inzwischen. Murmeltiertage, hoffentlich bleiben die Köppe
heil.
Dabei könnte eigentlich einiges anders sein heute als in vielen
vergangenen Jahren, in denen man mit seinen Demonstrationszügen
ziemlich weit vorbeilief am Lebensgefühl der Mehrheit, am Mainstream,
wenn man so will. Jetzt, Ende März 2009, gäbe es ja tatsächlich auch
für viele andere Menschen Grund zum Protest. Die verantwortlichen
Gipfelakteure, ob G7, G8, G20, bieten
ausreichend Anlass zu kritischer Nachfrage. Weniger zurückhaltend
formuliert: Das dramatische Versagen der führenden
Weltwirtschaftspolitiker, ihre derben Schnitzer beim Umgang mit Wohl
und Wehe unserer Betriebe, unserer Arbeitsplätze, unserer Ersparnisse
darf durchaus deutlich thematisiert werden. Da wurde ja hinreichend
sanft und selig gepennt, während das globale Finanzsystem erst
erodierte und schließlich krachend zusammenbrach.
Gipfeltreffen plätscherten rituell dahin, man gab sich offensichtlich
mehr Mühe, schöne Fotos zu generieren als die durchaus bekannten
Untiefen der Weltwirtschaft etwas genauer auszuloten. Es gab ja
Mahner und Warner. Nichts davon zu spüren, damals in den Strandkörben
von Heiligendamm? Beim Bier in der Präsidentensuite? Man könnte schon
ein wenig aus der Fassung geraten, wenn man sich erinnert an diese
oder jene Szene.
Gemessen an diesem Empörungspotenzial werden die Demonstrationszüge
von heute absehbar spärlich besetzt sein. Was Gründe hat. Zum einen
ist mit GeorgeW. Bush natürlich das Mensch gewordene
Feindbild abhandengekommen und durch einen ziemlich sympathischen
Kerl ersetzt worden, der auch als Ehrenmitglied von Attac durchginge.
Zum anderen haben Globalisierungskritiker, Ver.di, Linkspartei selbst
dem schwer angeschlagenen Weltwirtschaftssystem keine glaubwürdige,
Vertrauen schaffende Alternative entgegenzusetzen. Sie haben sich
seit Jahren in zum Teil ernst zu nehmendem, zum Teil wohlfeilem
Protest erschöpft, ohne heute dem Alten wahrhaft Neues, Attraktives
entgegensetzen zu können. Das merken die Menschen, die sich, zum
Glück, in ihrer Mehrheit nicht mehr überzeugen lassen von der
Anziehungskraft der gängigen Wolkenkuckucksheime. Sie möchten schon
genauer wissen, wie sich ihr Lebensstandard halten, vielleicht
verbessern ließe, gerne auch ohne die schlechteren Seiten des
Kapitalismus. Aber da kam bisher nicht allzu viel. Das wird, vermuten
wir, auch heute so bleiben.

Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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