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Berliner Morgenpost: Das Abendland auf einem Quadratkilometer - Leitartikel

Geschrieben am 16-10-2009

Berlin (ots) - Der Satz, dass die Politik zuletzt an die Kultur
denke und zuerst bei ihr den Rotstift ansetze, stimmt schon lange
nicht mehr. Längst wissen auch die Abgeordneten von den Hinterbänken,
dass Museen, Theater und Bibliotheken kein Luxus sind, auf den man in
Zeiten finanzieller Knappheit einfach verzichten könnte. Die meisten
scheinen begriffen zu haben, dass Bildung der wichtigste
Zukunftsstoff ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die glanzvolle
Wiedereröffnung des Neuen Museums für das Versprechen genutzt, dass
der Bund uneingeschränkt zu seinen kulturellen Verpflichtungen stehe.
Gerade hatten Gerüchte aus den Koalitionsverhandlungen für Unruhe
gesorgt, die Haushaltspolitiker wollten eine Verschiebung des
Schlossbaus und damit des nächsten Großprojekts Humboldtforum um vier
Jahre. Nach Merkels Erwiderung auf den Regierenden Bürgermeister, der
sie dazu aufgefordert hatte, Klarheit in dieser Frage zu schaffen,
wird sich am Zeitplan wohl nichts ändern. Jedenfalls wurde die
Kanzlerin so verstanden und mit überschwänglichem Beifall belohnt.
Ein kulturpolitisches Zurückstecken hätte zu dem wahrhaft
historischen Ereignis nicht gepasst. Zum ersten Mal seit 70 Jahren
sind nun wieder alle fünf Häuser der Museumsinsel dem Publikum
zugänglich. Die Idee, auf einem Areal von knapp einem
Quadratkilometer in der Mitte der deutschen Hauptstadt 6000 Jahre
abendländische Geschichte und Kunst erlebbar zu machen, ist
Wirklichkeit geworden. Wer die Kurzatmigkeit von Politik im
Medienzeitalter, die Bodenlosigkeit einer finanzgetriebenen Ökonomie
oder die Eventsucht einer übersättigten Öffentlichkeit beklagt, der
kann beim Blick auf das gemächliche, aber unbeirrbare Voranschreiten
des Jahrhundertprojekts Museumsinsel Trost und Zuversicht gewinnen:
Es gibt sie - den langen Atem, die Leidenschaft für die Sache, das
über alle Parteigrenzen und föderalistische Eifersüchteleien
hinweggehende Bewusstsein für das, was Deutschland als Kulturnation
sich und der Welt schuldig ist.
Das Neue Museum war sechzig Jahre lang eine dem Vergessen und dem
Wetter schutzlos ausgesetzte Ruine. David Chipperfield, der mit dem
Bau beauftragte Architekt, entschloss sich, diese Zerstörungs- und
Verfallsgeschichte nicht zu überbauen und zu übertünchen. Was noch
erhalten war, sollte penibel restauriert, aber nichts kopiert werden,
was verloren war. Das Aufeinandertreffen von archäologischer Sorgfalt
und modernen Materialien und Bauweisen hat viele verstört.
Chipperfields Konzept war umstritten. Eine Bürgerinitiative sammelte
den Unmut derer, die sich um ihren Anspruch auf "Wiederherstellung"
des Alten betrogen sahen. Bei der Alten Nationalgalerie und dem
Bodemuseum war doch auch das Alte in neuem Glanz erstanden. Warum
sollten nun beim Neuen Museum die Narben des Krieges ausgestellt
werden? Ist das Kokettieren mit morbider Ruinenschönheit nicht
frivol? Solche Fragen sind legitim. Aber sie sind leiser geworden.
Man möchte "Auferstanden aus Ruinen" summen. Beim Neuen Museum ist
kein Wort davon Lüge.

Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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