"Vertreibung aus dem Paradies" - Pharmaindustrie fordert belastbare Rahmenbedingungen im deutschen Gesundheitswesen
Geschrieben am 04-05-2010 |
München (ots) - Deutsches Gesundheitswesen im Spannungsfeld politischer Reformvorhaben der Bundesregierung/ Verlässliche Rahmenbedingungen fehlen/ Einsparungen bei allen Akteuren gefordert/ Globale Konzentration der Pharmaindustrie beschleunigt sich
Der Kostendruck bei Arzneimitteln in Deutschland wird unter der geplanten Gesundheitsreform 2010/2011 weiter steigen und die Pharmaindustrie vor neue Herausforderungen stellen. So der Tenor einer Konferenz von Booz & Company, der internationalen Strategieberatung, und Freshfields Bruckhaus Deringer, einer international führenden Anwaltssozietät, mit Vertretern aus dem Gesundheitswesen. Daniel Bahr, Parlamentarischer Staatssekretär im Gesundheitsministerium, stellte die gesundheitspolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung vor. Die Veranstaltung wurde moderiert von Peter Behner, verantwortlicher Partner für den Bereich "Health" bei Booz & Company in Europa, und Dr. Jochen Dieselhorst, verantwortlicher Partner bei Freshfields Bruckhaus Deringer.
In der pharmazeutischen Industrie herrscht derzeit Unsicherheit, weil verlässliche Rahmenbedingungen für Investitions- und Planungsentscheidungen in Deutschland fehlen. Die globale Konsolidierung der Pharmaindustrie setzt sich fort und wird mit ihren Auswirkungen auch vor Deutschland nicht Halt machen. Über kurzfristige Maßnahmen der aktuellen Reformvorhaben der Politik wie einen grundsätzlichen 16-prozentigen Zwangsrabatt hinaus sucht die Koalition nach strukturellen Veränderungen und Einbindung aller relevanten Akteure. Das Ziel dabei ist, die Ausgabenbelastung im Gesundheitswesen zu senken - Konzepte hierfür seien aktuell in der Entwicklung. Die Politik will die Beliebigkeit der Preisbildung bei Arzneimitteln reduzieren und den Nutzen für das Gesundheitssystem in den Vordergrund stellen. Vertreter der pharmazeutischen Industrie forderten unter anderem belastbare Bewertungsverfahren für den Nutzen von Arzneimitteln sowie die Beteiligung aller handelnden Personen des Gesundheitswesens an sinnvollen Sparmodellen. Klare Verhältnisse erwartet die Pharmabranche auch durch Direktverhandlungen über die zukünftige Rolle der gesetzlichen (GKV) und der privaten Krankenversicherung (PKV).
Koalitionsvertrag für die Arzneimittelversorgung
Bei den Eckpunkten zur Umsetzung des Koalitionsvertrages für die Arzneimittelversorgung geht das Bundesgesundheitsministerium davon aus, dass der entscheidende Kostenzuwachs durch Arzneimittel ohne Festbetrag verursacht wird. Er stieg im Jahr 2009 um neun Prozent, während die GKV-Umsätze mit Festbetragsarzneimitteln um zwei Prozent zurückgingen. Wachstumsträger sind, wie Daniel Bahr verdeutlichte, kostenintensive Spezialpräparate mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten. Für innovative Arzneimittel soll zukünftig der freie Marktzugang erhalten bleiben. Die Unternehmen sollen im ersten Jahr der Markteinführung ihr Produkt zum geforderten Preis vermarkten. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen soll das pharmazeutische Unternehmen mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen innerhalb eines Jahres nach Zulassung in Direktverhandlungen einen Rabatt mit Wirkung für alle Krankenkassen vereinbaren. Der Listenpreis des Unternehmens bleibt unverändert. Arzneimittel ohne Zusatznutzen sollen der Planung zufolge direkt in das Festbetragssystem überführt werden. Zum Erhalt des Wettbewerbs und zur Vermeidung der Oligopolisierung plant das Ministerium flankierende Regelungen. Vertreter der Industrie befürchten eine ausschließliche Belastung der Pharmaindustrie - auch andere Akteure wie Leistungserbringer müssten in die Pflicht genommen werden, ihren Teil zu den Einsparzielen beizutragen. Insbesondere jüngste Veränderungen durch die vorhergehende Bundesregierung bei der Regelung der ambulanten Versorgung hätten hier zu gegenläufigen, kostensteigernden Ergebnissen geführt.
Konsolidierung der Pharmaindustrie
Vor dem Hintergrund der Reformvorhaben der deutschen und anderer Regierungen schreitet die Konzentration in der Pharmaindustrie weltweit voran und wird sich auch auf den deutschen Markt nachhaltig auswirken. Diese Perspektive der Branche auf das Deutsche Gesundheitswesen schilderte Rolf Fricker, Pharmaexperte und Partner bei Booz & Company. In einem globalen Markt fokussieren sich die Arzneimittelausgaben heute auf Nordamerika, Europa und Japan - mit stark abnehmendem Wachstum. Die Hoffnung der Firmen liege auf den Emerging Markets wie Brasilien, Russland oder China, betonte Fricker. Den Auslöser für die signifikante Konsolidierung der Pharmaindustrie sieht er im Wachstums- und vor allem Profitabilitätsdruck. Auslöser hierfür seien der zeitnahe Patentablauf einiger der umsatzstärksten Therapien sowie eine strategische Lücke im Produktnachschub der Unternehmen. Damit wird Größe zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor. In dieser sich ändernden Industrie scheinen die deutschen Pharmaunternehmen den Anschluss verloren zu haben. Unter den globalen Top 50 (Quelle: Espicom, PharmExec, Booz & Company Analyse) hat sich die Anzahl deutscher Firmen zwischen 2001 und 2008 von sieben auf vier reduziert. Vertreter der Pharmaindustrie erwarten, dass die Reformvorhaben in Deutschland diesen Konsolidierungsprozess weiter begünstigen und Deutschland als Investitionsziel der Unternehmen dabei zunehmend hinterfragt wird.
Wachstumsmarkt "Spezialitäten"
Das Wachstum wird sich für Pharmaunternehmen in Deutschland auf den "Spezialitätenmarkt" für innovative, meist hochpreisige Therapien für seltene Krankheiten konzentrieren. In einem Marktausblick für verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland prognostiziert der Pharmaexperte dagegen für den patentgeschützten Massenmarkt zwischen 2008 und 2015 aufgrund von Preiserosion und rückläufigem Produktnachschub nur ein zweiprozentiges Plus. Im gleichen Zeitraum, so Fricker, dürften Generika aufgrund von Preiserosion und Volumenwachstum bei 4,3 Milliarden Euro stagnieren, während durch Innovation und Wertwachstum die "Spezialitäten" mit einem Plus von zehn Prozent bis 2015 zu den Gewinnern zählen würden. Unabhängig davon würde der Kostendruck bei Arzneimitteln in Deutschland unter der geplanten Gesundheitsreform 2010/2011 weiter steigen. Der grundsätzliche Zwangsrabatt von 16 Prozent für patentgeschützte Substanzen zeige dabei, dass die Einsparpotenziale bei den bisher stärker rabattierten Generika gegenüber patengeschützten Therapien weitestgehend erschöpft sind.
Begleitende rechtliche Herausforderungen (Kartellrecht versus Patentrecht)
Eine weitere Herausforderung speziell für die Industrie ergibt sich aus den im vergangenen Jahr vorgestellten Ergebnissen der Europäischen Kommission zur Sektorenuntersuchung der Pharmabranche. Diese sehr weitgehende Betrachtung der Wettbewerbsstrukturen im europäischen Arzneimittelbereich durch die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission stellt viele Positionen und Praktiken des Patenmanagements im Pharmasektor in Frage. Derzeit konzentriert sich die Europäische Kommission auf die kartellrechtliche Untersuchung der Anmeldepraktiken bei Sperrpatenten, Vergleichsvereinbarungen nach Patentrechtsstreitigkeiten (so genannte Reverse Settlements) und die Behinderung des Marktzutritts für Generikapräparate durch Interventionen aus dem Originatorenbereich im Marktzulassungsverfahren beziehungsweise in Verhandlungsverfahren mit den Erstattungsbehörden. Auch wenn die Auswirkungen dieser kartellrechtlichen Angriffe auf das Patentwesen noch nicht abschließend bewertet werden können, so zeigt sich in der Patentpraxis bereits jetzt eine Reaktion auf die erhöhte kartellrechtliche Aufmerksamkeit für diesen Sektor, berichteten Dr. Thomas Lübbig und Dr. Frank-Erich Hufnagel, Partner bei Freshfields Bruckhaus Deringer.
Perspektiven und Lösungsansätze
Aufgrund der sich verändernden Rahmenbedingungen wird sich die Pharmaindustrie-Konsolidierung weiter beschleunigen. Deshalb müssen, wie Fricker konstatiert, Pharmaunternehmen sich auf ihre Kernkompetenzen im eigenen Geschäftsmodell konzentrieren, unterstützende Aktivitäten externalisieren und strategische Partnerschaften nutzen sowie das Produktportfolio dauerhaft um Dienstleistungen oder Systemlösungen ergänzen. Hierzu zählen beispielweise Serviceangebote für Patienten, welche die Compliance bei Therapieverläufen effektiv unterstützen. Vor dem Hintergrund der Gesundheitsreform sieht Fricker die Notwendigkeit zur Portfoliooptimierung auf Nutzenaspekte und konsequente Beweisführung sowie die Entwicklung produktübergreifender Angebote zur Behandlung einzelner Krankheitsbilder. Außerdem empfiehlt er ein konsequenteres Kostenmanagement für "long tail"- und "me-too"-Produkte sowie die Reorganisation von Marketing- und Vertriebsmodellen auf spezifische Bedürfnisse einzelner Kundengruppen und Stakeholdern. In der Kommunikation sei es erforderlich, die öffentliche Wahrnehmung von Pharmaunternehmen zu verbessern und den Nutzen von Arzneimitteln für die Bevölkerung transparenter zu machen. Nur so lasse sich die Innovationskraft von Arzneimitteln im Markt entfalten und die kosteneffektive Vermarktung für eine hochwertige Patientenversorgung mit Fokus auf Wertsteigerung im Gesundheitswesen realisieren.
Über Booz & Company
Booz & Company ist mit mehr als 3300 Mitarbeitern in 60 Büros auf allen Kontinenten eine der weltweit führenden Strategieberatungen. Zu den Klienten gehören erfolgreiche Unternehmen sowie Regierungen und Organisationen.
Unser Gründer Edwin Booz formulierte bereits 1914 die Grundlagen der Unternehmensberatung. Heute arbeiten wir weltweit eng mit unseren Klienten zusammen, um die Herausforderungen globaler Märkte zu meistern und nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Dazu kombinieren wir einzigartiges Marktwissen sowie tiefe funktionale Expertise mit einem praxisnahen Ansatz. Unser einziges Ziel: unseren Klienten jederzeit den entscheidenden Vorteil zu schaffen. Essential Advantage. Informationen zu unserem Management-Magazin strategy+business finden Sie unter: www.strategy-business.com . www.booz.com/de
Über Freshfields Bruckhaus Deringer
Freshfields Bruckhaus Deringer LLP ist eine internationale Wirtschaftskanzlei mit 27 Büros in den wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentren weltweit. Mehr als 2.500 Rechtsanwälte beraten aus einer integrierten Partnerschaft die führenden nationalen und multinationalen Unternehmen, Finanzdienstleister und Institutionen bei ihren komplexesten Projekten und Transaktionen - wirtschaftsrechtlich umfassend, mit höchstem Anspruch an Qualität und Effizienz. Als Medienvertreter können Sie sich auf unserer Website eintragen, wenn Sie per E-Mail auf neue Pressemitteilungen hingewiesen werden möchten: http://www.freshfields.com/news
Originaltext: Booz & Company Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/44015 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_44015.rss2
Pressekontakt: Rückfragen und weitere Informationen: Madeleine Gruber Pressestelle Booz & Company Tel. 089 / 54 52 5 224 Fax: 089 / 54 52 5 602 Email: madeleine.gruber@booz.com
Christoph Tillmanns Head of Communications Germany Freshfields Bruckhaus Deringer Tel. 069 / 27 30 84 59 Fax: 069 / 23 26 64 Email: christoph.tillmanns@freshfields.com
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