Neue Westfälische (Bielefeld): Der Rücktritt des Bundespräsidenten Flucht vor Verantwortung THOMAS SEIM
Geschrieben am 31-05-2010 |
Bielefeld (ots) - Deutschland ist in keinem guten Zustand. Das
muss man in diesen Tagen leider zur Kenntnis nehmen. Den bisherigen
Höhepunkt des Niedergangs unserer republikanischen Politik hat sich
bis gestern kaum jemand ausmalen können: Das Staastoberhaupt tritt
zurück. Bislang war man solche Flucht aus der Verantwortung aus nur
zweifelhaft gefestigten Staatssystemen - um nicht Bananenrepubliken
zu sagen - gewohnt. Nun sind wir mittendrin in einer Debatte über die
Stabilität unseres gesamten politischen Systems. Denn darüber täusche
sich niemand: Mit einer schnellen Ersatzlösung für einen frustrierten
ehemaligen Sparkassenpräsidenten, der gern mehr sein wollte, mag man
das Staatsgefüge ins Gleichgewicht bringen, die politische Klasse in
Deutschland ist es damit noch lange nicht. Horst Köhler hat mit
seinem Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten, in das er erst vor
einem Jahr mit knapper Mehrheit wiedergewählt worden war, seinem
Land, seiner Partei und sich selbst keinen Dienst erwiesen. Er hat
Kritik an seiner Person als seines Amtes nicht würdig dargestellt.
Das ist - mit Verlaub - ein Rückfall in den Feudalismus. Man muss
deshalb nun wohl sagen: Horst Köhler hat sich des Amtes eines
Staatsoberhauptes in einer parlamentarischen Demokratie als nicht
würdig erwiesen. Wie wollen wir eigentlich unserer nachwachsenden
Generation heute überzeugend deren Pflicht- und
Verantwortungsbewusstsein nahebringen, wenn das Staatsoberhaupt
selbst seine Verantwortung und vor seinen Pflichten flieht? Nein,
Horst Köhler - ein Mann, der in seiner Amtszeit zunächst unseren
Respekt erwarb mit mutigen Reden zu Reformnotwendigkeiten in
Deutschland und der uns imponierte mit seinem unverstellten,
engagierten Blick auf unsere Pflicht gegenüber den
Entwicklungsländern in Afrika - hat seine Pflicht nicht erfüllt: Er
hat seinem Land mit seinem gestrigen Rücktritt nicht gedient. Wie
groß der politische Schaden für das System in Deutschland ist, vermag
man heute nicht genau einzuschätzen. Sicher aber werden sich
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vize-Kanzler Guido Westerwelle
Köhlers Versagen zurechnen lassen müssen. Sie beide waren es, die
ihren Kandidaten Köhler dem damals völlig konsternierten bayerischen
Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber in
Westerwelles Berliner Wohnung vorsetzten, um Stoibers Kandidaten
Wolfgang Schäuble zu verhindern. Nur am Rande: Mit Schäuble - dem
vielleicht pflicht- und verantwortungsbewusstesten Politiker der
Union derzeit - wäre uns der gestrige Tag sicher erspart geblieben.
Was also nun? Namen für eine Köhler-Nachfolge werden derzeit
schneller aufgerufen, als man zuhören kann. Man wird gut beraten
sein, gerade die Erstgenannten nicht allzu ernst zu nehmen. Bis auf
eine Ausnahme vielleicht: Ursula von der Leyen. Die Tochter des
ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht will
es offenbar unbedingt. Und sie könnte es wohl auch. Es wäre außerdem
eine gute Entscheidung, endlich eine Frau dieses Amt füllen zu
lassen. Das alles aber wird nicht den Ausschlag für sie geben. Wenn
sie es würde, dann nur von Angela Merkels Gnaden, als loyale
politische Präsidentin des Systems Merkel. Und weil sie den Platz des
Arbeits- und Sozialministers freimachen könnte für einen
Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, dessen Verbleib im Amt in NRW
immer unwahrscheinlicher wird. Das Staatsgefüge mag damit wieder
halbwegs in ein Gleichgewicht der Ämter und der Macht gebracht
werden. Die politische Klasse allerdings würde sich so nicht
bewähren. Wieder einmal.
Originaltext: Neue Westfälische (Bielefeld)
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