WAZ: Rechtsstaat und Gewissen - Kommentar von Dietmar Seher
Geschrieben am 01-06-2010 |
Essen (ots) - Das absolute Verbot unmenschlicher Behandlung lässt
"keine Ausnahme zu, nicht einmal wenn ein Menschenleben in Gefahr
ist". Der Satz ist der Kern des Urteils der Menschenrechts-Richter,
die in Straßburg über den Fall Gäfgen zu urteilen hatten. Es lastet
deutschen Behörden an, mit Folter gedroht zu haben - auch wenn es
darum ging, das Leben eines Kindes zu retten. Das Urteil wiegt
schwer. Deutschland hat es zu verinnerlichen. Denn Deutschland gehört
zum Kreis der Staaten, für die Menschenrechte unteilbar bleiben. Auch
ein Mörder darf sie beanspruchen. Straßburg hat juristisch
entschieden. Auch moralisch? Die Frage berührt jeden, ob Kindeseltern
oder nicht. Sie heißt präzise: Hätten wir, in der Lage des
Frankfurter Polizei-Vize Daschner, auch mit "Schmerzen" gedroht, um
das Versteck dieses hilflosen Opfers zu erfahren, dessen Leben in
dieser Minute bedroht schien? Viele werden sagen: Ja. Hätten wir. Die
Richter mussten auf dem schmalen Grat urteilen zwischen
rechtsstaatlicher Norm und menschlichem Instinkt, Leben zu retten.
Ihr Spruch macht klar: Wer wie Daschner handelt, bricht Recht - und
muss alles andere mit Gott und seinem Gewissen ausmachen. Dass Gäfgen
lebenslang weggesperrt bleibt, ist dann nur ein - wichtiger - Trost.
Originaltext: Westdeutsche Allgemeine Zeitung
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