Wiesbadener Kurier: Kommentar zu EU-Gipfel
Geschrieben am 19-10-2007 |
Wiesbaden (ots) - Pragmatismus statt Pathos. Europa bekommt keine Verfassung, aber mit dem Vertrag von Lissabon geht die Gemeinschaft einen großen Schritt in Richtung Staatlichkeit weiter. Mit der Bestallung eines geschäftsführenden EU-Präsidenten und eines De-facto-Außenministers, der nur den Titel nicht tragen darf, erhalten die 27 Mitgliedsstaaten die lang vermisste "eine Adresse³. Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen macht die Union handlungsfähiger. Mehr Rechte für das Europaparlament, aber auch Einspruchsmöglichkeiten der nationalen Legislativen, sorgen für mehr Demokratie. Die Stimmengewichtung nach der doppelten Mehrheit ist gerade für größere Länder gerechter im Vergleich zum alten Nizza-Vertrag. Kurzum, die wichtigsten Bestandteile aus dem gescheiterten Verfassungs-Vorstoß sind in das gewiss komplizierte neue Vertragsnetz hinübergerettet worden. Der Preis dafür gebührt nicht zuletzt der Bundeskanzlerin, die während der deutschen Ratspräsidentschaft die entscheidende Vorarbeit geleistet hat, damit ihr portugiesischer Kollege Socrates jetzt die Ernte einfahren konnte. Die letzten notwendigen Zugeständnisse an Rom und Warschau dürften sich als ziemlich unerheblich erweisen. Ein Parlamentssitz mehr für Italien, das ist eine Marginalie. Und der von den wahlkämpfenden Kaczynskis als großer Sieg verkaufte Ioannina-Mechanismus, der theoretisch Mehrheitsbeschlüsse verzögern soll, ist bisher noch nie angewendet worden, obwohl er schon seit über einem Jahrzehnt gilt. Viel entscheidender nach der Einigung von Lissabon ist die Aussicht, dass die unspektakuläre Textsammlung jetzt ohne hoch emotionale Diskussionen und Referenden namentlich in kritischen Ländern wie Großbritannien und Frankreich in allen Mitgliedsstaaten die Ratifizierungshürde nimmt. Europa bewegt sich doch, wenn auch in einem Zeitplan, der in Jahrzehnten rechnet.
Originaltext: Wiesbadener Kurier Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/64428 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_64428.rss2
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