Westdeutsche Zeitung: Leben, um zu arbeiten =
von Stefan Vetter
Geschrieben am 08-09-2014 |
Düsseldorf (ots) - Diesen Witz kennen wohl die meisten: In anderen
Nationen arbeiten die Menschen, um zu leben - in Deutschland leben
die Menschen, um zu arbeiten. Die jüngste Studie über die im
Euro-Raum geleisteten Überstunden bedient jenes Klischee jedenfalls
auf vortreffliche Weise. Nur, was ist daran eigentlich so schlimm?
Sicher, in vielen gut dotierten Jobs werden Überstunden schlicht
erwartet. Sie sind in der Vergütung gewissermaßen schon eingepreist.
Wenn Maloche allerdings zum Dauerstress ausartet, wenn Unternehmer
ohnehin schon dürftig bezahlten Beschäftigten die Mehrarbeit weder
vergüten noch in Freizeit ausgleichen, dann läuft tatsächlich eine
Menge schief. Trotzdem wäre es falsch, Überstunden prinzipiell zu
verdammen. Denn der Missbrauch ist nur ein Teil der Wahrheit. Anders
als etwa in Großbritannien, wo das Bruttosozialprodukt vornehmlich
über Dienstleistungen und den Finanzsektor erwirtschaftet wird, geht
die Wirtschaftskraft in Deutschland zu einem großen Teil auf das
produzierende Gewerbe zurück. Aus der Herstellung konkurrenzfähiger
Autos oder Werkzeugmaschinen zum Beispiel. Gerade in diesem Bereich
müssen aber auch häufig Auftragsspitzen abgearbeitet werden. Eben
erst vermeldete das Statistische Bundesamt wieder einen neuen
Exportrekord. Ohne Überstunden wäre der sicher nicht möglich gewesen.
Doch es geht nicht nur um Rekorde. Die große Finanzkrise in den
Jahren 2008 und 2009 hat Deutschland nicht nur deshalb
vergleichsweise schnell weggesteckt, weil der Arbeitsmarkt anders als
in anderen Staaten weniger gesetzlich zementiert war. Der Erfolg
resultierte vor allem aus den flexiblen Arbeitszeitkonten in vielen
deutschen Unternehmen. Damit wurden angehäufte Überstunden
"abgefeiert" und Entlassungen verhindert. Im Ernstfall können
Überstunden also auch eine arbeitsplatzsichernde Maßnahme sein. Und
Hand aufs Herz: Es gibt auch nicht wenige Beschäftigte, denen der
Mehrverdienst durch Überstunden, oder die gewonnene freie Zeit an
anderen Tagen, sehr gelegen kommt. Und die deshalb wenig über
Arbeitszeitverkürzungen begeistert wären, wie sie politisch immer
wieder gefordert werden.
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Westdeutsche Zeitung
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