Flugzeug-Dusche gegen die Eis-Gefahr / Ohne Enteisungs-Flüssigkeiten gäbe es im Winter keinen Flugverkehr (FOTO)
Geschrieben am 18-12-2017 |
Muttenz (ots) -
- Hinweis: Bildmaterial steht zum kostenlosen Download bereit
unter: http://www.presseportal.ch/de/pm/80528/100810517 -
Von Andreas Schwander
An kalten Tagen gibt es für jedes Flugzeug erst mal eine Dusche -
eine Dusche aus Glykol gemischt mit heissem Wasser und verschiedenen
Zusatzstoffen, je nach Aussentemperatur und Wetterverhältnissen. Die
Dusche wird «De-Icing», Enteisen, genannt. Sie ist nötig, weil
Eisbildung einer der gefährlichsten physikalischen Prozesse in der
Fliegerei ist.
Eis und Flugzeuge vertragen sich nicht. Denn Eis kann in die
Triebwerke geraten und diese beschädigen, es kann Teile der
Flügelmechanisierung wie Landeklappen und Vorflügel blockieren. Das
sind jene beweglichen Teile an den Tragflächen, die man als Passagier
aus dem Flugzeugfenster beobachten kann, wie sie je nach Flugphase
aus- oder eingefahren werden. Sie korrigieren aber auch mit feinen
Bewegungen die Lage des Flugzeuges in der Luft. Eis kann aber auch im
Leitwerk ganz hinten am Flugzeug Höhen- und Seitenruder verklemmen
und damit die Steuerfähigkeit beeinträchtigen. Das wird innert
kürzester Zeit sehr gefährlich.
Noch gefährlicher ist, wenn Eis die Flugeigenschaften eines
Flugzeuges komplett verändert. So baut sich etwa Eis nahezu
unsichtbar auf den Flügeln oder am Leitwerk auf. Es verändert das
Flügelprofil, so dass die Strömung am Flügel abrupt abreisst, in der
Fachsprache «Stall» genannt. Und plötzlich hört das Flugzeug auf zu
fliegen. Schon eine hauchdünne Eisschicht mit der Rauheit von
Schleifpapier kann eine verheerende Wirkung haben, wenn sie während
dem Flug die meist unsichtbare aerodynamische Trennschicht über der
Oberseite des Flügels verwirbelt.
Bei geeignetem Wetter sieht man das Phänomen der Trennschicht
sogar als Passagier. Dann rast ein feiner Nebelstrom in etwa
fingerbreitem Abstand über den Flügel. Der Abstand zwischen dem Nebel
und dem Flügel ist ein Vakuum, welches das Flugzeug nach oben zieht.
Dieser Effekt sorgt auch dafür, dass rund zwei Drittel des Auftriebs
an der oberen Seite und nur ein Drittel an der unteren Seite des
Flügels entstehen. Wenn nun von einer rauen Eisschicht gebildete
Luftwirbel dieses Vakuum zerstören, ist der Auftrieb schlagartig weg
und das Flugzeug fliegt nicht mehr. Man spricht von einem
Strömungsabriss.
Eis kommt leise, einseitig und heimtückisch
Meist bildet sich das Eis nicht an beiden Flügeln gleichzeitig und
gleich intensiv. Ein Strömungsabriss geschieht deshalb oft nur an
einem Flügel. Das Flugzeug verliert dann nicht etwa kontinuierlich an
Auftrieb, sondern fliegt plötzlich nur noch auf einer Seite: Es dreht
sich wild und stürzt ab. Ähnlich gravierend sind Vereisungen am
Leitwerk, wo die langsam dicker werdenden Eisschichten dazu führen
können, dass das Flugzeug plötzlich völlig unvorhergesehen Bewegungen
macht, obwohl die Positionen von Höhen- und Seitenruder nicht
verändert wurden.
Eis an Flugzeugen bildet sich am Boden in der umgebenden
feuchtkalten Luft. Es entsteht aber auch, wenn ein Flugzeug nach
einer trocken-kalten klaren Winternacht mit einer sehr kalten
Aussenhaut in eine Wolke feuchter Luft fliegt. Gleiches passiert
auch, wenn ein Flugzeug von der Reiseflughöhe, wo es oft um -50 Grad
kalt ist, absinkt und im Landeanflug durch feuchte Luftschichten
fliegt.
Manche Simulatoren fliegen trotz Eis
Flugzeughersteller kennen deshalb eine Vielzahl von Technologien,
um Eis zu bekämpfen. Da gibt es aufblasbare Gummimatten an den
Flügeln und am Leitwerk, welche Eis wegsprengen, Flügelelemente, die
mit heisser Luft aus dem Triebwerk beheizt werden, elektrische
Heizungen oder auch elektrische Induktions-Systeme, welche Eis
buchstäblich wegsprengen.
Der Umgang mit Eis gehört zum Standard-Programm bei der
Pilotenausbildung. Flugzeugführer müssen wissen, wie sich Eis bildet.
Sie lernen, wie man vereisende Luftschichten meidet, welche
Konsequenzen Eis am jeweiligen Flugzeugtyp hat und wie man mit
Eisbildung im Flug umgeht. Das alles wird sowohl in der Theorie wie
auch im Simulator regelmässig geübt. Allerdings hat sich gezeigt,
dass gewisse Simulatoren auch noch in Situationen «fliegen», in denen
das reale Flugzeug aufgrund der Eisbildung bereits abgestürzt wäre.
Weil diese Simulatoren aber nach wie vor für die Ausbildung
zertifiziert sind, ist eine extrem sorgfältige Enteisung vor dem Flug
umso wichtiger.
«Kühlelemente» in den Flügeln
Um die heisse Dusche vor dem Start führt kein Weg herum. Dabei
reagiert jedes Flugzeug anders. Wurde es gerade eben mit frischem,
warmem Treibstoff aus den unterirdischen Pipelines des Flughafens
betankt, sind die Flügel mit den Tanks relativ warm und lassen
weniger Eis entstehen. Waren die Flügeltanks dagegen schon am Abend
voll, wirkt der Treibstoff wie ein Kälte-Akku in der Kühltasche und
lässt sehr viel schneller wieder Eis auf den Flügeln ansetzen. Dieser
Effekt kann sogar am selben Flugzeug variieren, etwa wenn die Tanks
nur halbvoll sind. Bei Hochdeckern wie dem legendären
Regionalflugzeug von Swiss und Eurowings Avro RJ «Jumbolino», dessen
hoch am Rumpf sitzende Flügel leicht abwärts zeigen, läuft der
Treibstoff in die Flügelspitzen. Dort hält sich dann das Eis zäher
als in der Nähe des Rumpfes.
Das alles müssen Piloten und Bodenpersonal wissen, um Flugzeuge
gründlich zu enteisen. Bei besonders garstigem Wetter und starkem
Schneefall kommt dabei ein so genanntes «Two-Step De-Icing» zum
Einsatz. Dabei wird erst mit heissem Wasser und Enteisungsmittel vom
Typ I der Schnee von den Flügeln gespritzt. Danach verhindert ein
zweiter Arbeitsgang mit einem anderen Glykol-Wassergemisch (Typ II
bis IV) einen neuen Eis- und Schneeansatz.
Wichtig ist die so genannte Holdover-Time. Das ist die Zeit, die
maximal verstreichen darf zwischen dem Enteisen und dem Abheben des
Flugzeuges. Wird diese Zeit überschritten, muss das Flugzeug neu
enteist werden. Das kann durchaus passieren, etwa wenn viele
Flugzeuge auf den Start warten und zwischendurch auch noch Schnee
weggeräumt werden muss. Wenn dann bei einer zusätzlichen Enteisung
auch noch die Besatzung bis zur geplanten Landung die maximal
erlaubte Arbeitszeit überschreiten würde, müssten neue Piloten
aufgeboten werden und das Chaos wäre perfekt.
Höhere Anforderungen an die Enteisungsmittel
Doch bei der Enteisung erträgt das «System Luftverkehr» keine
Kompromisse. Laut der US-Luft- und Raumfahrtbehörde NASA ist
Eisbildung am Boden und während des Fluges für rund zehn Prozent der
Flugzeugunfälle mitverantwortlich. Die Zahl der durch Vereisung oder
mangelnde Enteisung in den letzten drei Jahrzehnten ums Leben
gekommenen Menschen dürfte mehrere Hundert betragen.
Mit dichterem Flugverkehr, häufigeren Wartezeiten an Flughäfen und
knapper Personalplanung bei den Airlines werden deshalb die
Anforderungen an die Hersteller der Enteisungschemikalien immer
höher. Die Enteisungsflüssigkeiten sollen nicht toxisch und möglichst
billig sein, mit einer möglichst langen Holdover-Zeit. Im
Entwicklungsteam von Clariant heisst es dazu: «Unsere Produkte
enthalten vor allem Glykol, welches das Einfrieren verhindert.
Wichtig sind aber auch Stoffe, die Korrosion vermeiden. Wiederum
andere sorgen für eine gute Verteilung der Enteisungsmittel oder
verhindern, dass diese auf den Tragflächen zu sehr aufschäumen. Bei
den Flüssigkeiten des Typs Safewing® IV sorgt eine zusätzliche
Substanz dafür, dass sich ein feiner Film bildet, der das
Wiedereinfrieren deutlich hinauszögert.» Bei der Weiterentwicklung
der Produkte forscht man in Richtung nachhaltigere Systeme, wobei vor
allem Bio-Moleküle interessant sind.
Abwässer wie eine Millionenstadt
Denn Ökologie ist ein sehr grosses Thema. Beim Enteisen stehen den
Risiken für die Flugpassagiere immer auch die Risiken für die Umwelt
entgegen. Das früher häufig verwendete Ethylenglykol ist zwar gut
biologisch abbaubar, aber relativ giftig. Deshalb wird es aufgrund
seiner hohen Wirksamkeit praktisch nur noch in den grossen
Arktis-Ländern Kanada und Russland verwendet. Propylenglykol, das
überall sonst eingesetzt wird, ist deutlich weniger giftig.
Allerdings haben beide Stoffe den Nachteil, dass sie beim
biologischen Zerfall dem Wasser sehr viel Sauerstoff entziehen.
Dieser Effekt ist bei der üblichen Mischung von Enteisungsmittel und
Wasser etwa 3000-mal so stark wie bei normalem Abwasser.
Die Enteisung eines einzigen Flugzeuges mit durchschnittlich 800
Litern reiner Enteisungsflüssigkeit plus Wasser hätte deshalb auf das
Wasser denselben Effekt wie die täglichen Abwässer einer Kleinstadt
mit 8000 Einwohnern. Grossflughäfen wie Heathrow oder Frankfurt
produzieren so im Winter allein mit der Enteisung Abwässer in Mengen,
die vergleichbar sind mit jenen einer Millionenstadt. Diese Abwässer
dürften auf keinen Fall einfach in die Umwelt abgeleitet werden. Die
Flughäfen haben deshalb auf den Vorfeldern spezielle Kanalisationen
und Enteisungs-Standplätze, wo sie die Flüssigkeiten sammeln, separat
reinigen und teilweise sogar wiederverwerten können. Clariant stellt
dazu den Flughäfen entsprechende Technologien und auch biologische
Daten der Produkte zur Verfügung. Die Aufarbeitung des Glykols
geschieht entweder direkt auf den Flughäfen oder in spezialisierten
Betrieben ausserhalb. Das Recycling der aufgefangenen
Enteisungsmittel kann zu erheblichen Einsparungen bei der
vorschriftsgemässen Entsorgung führen. Denn ohne die warme Dusche aus
Glykol vor dem Fliegen ist Fliegen viel zu gefährlich.
Kasten:
Orange, Gelb, Pink und Grün
Clariant vertreibt Enteisungsmittel unter den Markennamen
Safewing®, Octaflo[TM] und Max Flight[TM]. Das Unternehmen ist in
Europa, Russland, Nord- und Südamerika sowie in einzelnen
asiatisch-pazifischen Ländern präsent, während die Märkte in China
hauptsächlich von chinesischen Produzenten abgedeckt werden. Bei den
Enteisungsmitteln unterscheidet man die Typen I bis IV, die mit den
Farben Orange, Gelb, Pink und Grün eingefärbt werden. Typ I (orange)
dient dabei gemischt mit heissem Wasser dem eigentlichen Enteisen
(De-Icing), dem Entfernen von Schnee und Eis von Tragflächen und
Leitwerken. Die drei anderen Flüssigkeiten sind anders
zusammengesetzt und sollen vor allem das Wieder-Vereisen der bereits
behandelten Flugzeugteile verhindern, indem sie einen feinen Film auf
der Oberfläche des Flugzeuges bilden. Dieser Prozess wird
«Anti-Icing» genannt.
Die Versorgung der Flughäfen benötigt eine ausgefeilte Logistik.
Der Markt für Enteisungsmittel beträgt mehrere Hundert Millionen Euro
jährlich. Produziert wird im Sommer auf Lager und mit der
Winterproduktion wird das verbrauchte Material möglichst laufend
ersetzt. Die Lager befinden sich sowohl in den Werken von Clariant
wie auch an günstig gelegenen Logistikstandorten und bei den
Flughäfen.
Pressekontakt:
Claudia Kamensky, Tel. +41 61 469 72 27, claudia.kamensky@clariant.com
Original-Content von: Clariant, übermittelt durch news aktuell
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