BERLINER MORGENPOST: Die Bahn als Vorbild / Leitartikel von Philipp Neumann zur Tarifeinigung bei der Bahn
Geschrieben am 15-12-2018 |
Berlin (ots) - Kurzform: Kluge Gewerkschaften - und kluge
Arbeitgeber - sollten sich bemühen, die Wünsche der Arbeitnehmer zu
berücksichtigen. Das ist sicherlich kompliziert, es ist auch nicht
zum Nulltarif zu haben, weshalb hart gerungen werden muss.
Gleichzeitig ist es aber absolut notwendig. Wenn wir immer älter
werden und immer länger arbeiten können und zum Teil auch müssen,
dann muss es Modelle geben, die dies erträglich machen. Dass das
grundsätzlich geht, das zeigen Tarifverträge wie der bei der
Deutschen Bahn. Wenn solche Vorbilder obendrein dazu führen würden,
dass weniger Arbeitgeber aus Tarifverträgen flüchten, weil sie ihren
Wert erkennen und mehr auf die Wünsche ihrer Belegschaft hören, dann
hätten alle Seiten etwas davon.
Der vollständige Leitartikel: Dass die Deutsche Bahn sich mit
einer ihrer beiden Gewerkschaften auf einen neuen Tarifvertrag
geeinigt hat, ist die beste Vorweihnachtsnachricht in diesem
Dezember. Kein Bahnstreik, jedenfalls kein absehbarer, das bedeutet
relativ stressfreies Reisen - sofern Bahnfahren zur Weihnachtszeit
überhaupt stressfrei möglich ist. Es gibt mehr Geld für die
Bahn-Beschäftigten, das ist klar. Das Paket, das das Unternehmen
zusammen mit der Gewerkschaft EVG auf den Tisch gelegt hat, enthält
aber noch mehr. Zum wiederholten Mal haben beide Seiten einen Vertrag
vereinbart, der ziemlich modern ist: In der zweiten Stufe ab Januar
2021 können die Bahnbeschäftigten wählen, ob sie mehr Geld, mehr
Freizeit oder mehr Urlaub haben wollen. Das setzt sichtbar Maßstäbe.
Die Bahngewerkschaft ist nicht die erste, die in Tarifverträgen ein
solches Modell ausprobiert hat. Die IG Metall und Verdi haben bereits
ähnliche Vereinbarungen getestet. Mit Erfolg: Wie eine Auswertung der
letzten Tarifrunde bei der Bahn zeigt, entschied sich gut die Hälfte
der Beschäftigten für zusätzlichen Urlaub. Die andere Hälfte nahm das
zusätzliche Geld, und ein kleiner Rest von zwei Prozent wählte die
Arbeitszeitverkürzung. Das zeigt Zweierlei. Erstens: Die
Individualisierung und Flexibilisierung setzt sich auch bei
Tarifrunden durch. Es gibt nicht mehr den einen Abschluss für alle.
Die Bedürfnisse von alten und jungen Mitarbeitern, von Singles und
Eltern sind höchst unterschiedlich. Gut, dass Gewerkschaften und
Arbeitgeber das begreifen. Gut, dass Arbeitnehmer wählen können. Für
Arbeitgeber macht das die Personalplanung ganz bestimmt nicht
einfacher, das ist richtig. Aber auch sie sollten ein Interesse an
zufriedenen Mitarbeitern haben. Mit differenziert verhandelten
Tarifverträgen können sie etwas zurückgeben - im Austausch für die
wachsende Flexibilität, die sie ihren Mitarbeitern abverlangen. Die
können es sich in Zeiten des Fachkräftemangels inzwischen leisten,
neue Forderungen zu stellen. Das führt zur zweiten Erkenntnis: In der
Arbeitswelt brechen - nicht erst seit gestern, aber doch in
wachsendem Tempo - jahrzehntelange fest gefügte Strukturen auf.
Arbeitszeiten entsprechen nicht mehr dem Schema "nine to five".
Gleichzeitig wird der Arbeitsdruck größer: Arbeitnehmer müssen mehr
Arbeit in kürzerer Zeit bewältigen. Sie konkurrieren mit Robotern und
Künstlicher Intelligenz. Das Bedürfnis nach Auszeiten wird da
verständlicherweise größer. In Ehen und Partnerschaften, in denen
immer häufiger beide Teile arbeiten, wächst außerdem das Bedürfnis
nach gemeinsamer Zeit. Dabei geht es nicht nur schlicht um Freizeit
und Erholung, sondern auch um Zeit, um beispielsweise Angehörige zu
pflegen. Kurz: Die Prioritäten bei vielen Arbeitnehmern verschieben
sich gerade. Kluge Gewerkschaften - und kluge Arbeitgeber - sollten
sich bemühen, diese Wünsche der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Das
ist sicherlich kompliziert, es ist auch nicht zum Nulltarif zu haben,
weshalb hart gerungen werden muss. Gleichzeitig ist es aber absolut
notwendig. Wenn wir immer älter werden und immer länger arbeiten
können und zum Teil auch müssen, dann muss es Modelle geben, die dies
erträglich machen. Dass das grundsätzlich geht, das zeigen
Tarifverträge wie der bei der Deutschen Bahn. Wenn solche Vorbilder
obendrein dazu führen würden, dass weniger Arbeitgeber aus
Tarifverträgen flüchten, weil sie ihren Wert erkennen und mehr auf
die Wünsche ihrer Belegschaft hören, dann hätten alle Seiten etwas
davon.
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