Mittelbayerische Zeitung: Integration: Mangelhaft / Von einem Leben in der Mitte der Gesellschaft sind viele Behinderte noch weit entfernt. Von Katia Meyer-Tien
Geschrieben am 01-05-2019 |
Regensburg (ots) - Bis zu 300 Millionen Euro könnte es kosten,
wenn Sozialminister Hubertus Heil seine Pläne durchsetzen kann. 300
Millionen Euro zur Entlastung von Eltern und Kindern
pflegebedürftiger oder behinderter Menschen. Sie sollen, so die Idee
aus dem Sozialministerium, in Zukunft nur noch dann an den Kosten für
Pflege und sogenannte "Eingliederungshilfen" - beispielsweise dem
Umbau einer barrierefreien Wohnung, einer notwendigen Haushaltshilfe
oder einem Gebärdensprachdolmetscher - beteiligt werden, wenn ihr
Jahreseinkommen über 100 000 Euro liegt. Die Reformidee wirft ein
Schlaglicht auf die Lebenswirklichkeit von Behinderten und
Pflegebedürftigen in Deutschland. Noch immer hängen deren
Versorgungs- und Lebensqualität wie auch ihre Zukunftschancen allzu
oft von der Finanzstärke ihrer Angehörigen ab. Dabei ist die
Unterstützung behinderter Menschen durch den Staat eben kein
altruistisches Almosen. Sondern eine Pflicht, der Deutschland in
vielen Bereichen noch nicht ausreichend gerecht wird. Im März 2009
ist in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft
getreten. Deutschland hat sich darin unter anderem verpflichtet,
"Menschen mit Behinderungen (...) ihre volle Einbeziehung in die
Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern". Und
sich so eine Reform verordnet, die Menschen mit Behinderung weg aus
der Isolation der Förderschulen und Behindertenwerkstätten, der
Wohnheime und Pflegeeinrichtungen direkt in die Mitte der
Gesellschaft führen sollte. Zehn Jahre später allerdings fällt die
Bilanz ernüchternd aus. Nur die wenigsten der rund 7,8 Millionen
Menschen mit einer schweren Behinderung in Deutschland leben mitten
in der Gesellschaft. Die meisten stehen am Rand, irgendwo im
Niemandsland zwischen Inklusion und Überforderung oder Förderung und
Isolation. Beispiel Schulen: In vielen Regionen schließen gut
ausgestattete Förderschulen im Namen der Inklusion, während
Regelschulen unter einer Mehrbelastung ächzen, deren Anforderungen
sie ohne ausreichend Finanzmittel und ausreichend qualifiziertes
Personal nur schwer gerecht werden können. Beispiel Arbeitsmarkt:
Arbeitgeber sind verpflichtet, pro 20 Mitarbeiter einen Menschen mit
Handicap einzustellen. Tun sie das nicht, müssen sie eine
Ausgleichsabgabe von 125 bis 320 Euro pro Monat bezahlen. Viele tun
das, so liegt die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderung
bundesweit mit etwa zwölf Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei
Menschen ohne Behinderung. Dabei bleibt vielen Menschen mit
Behinderung der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt ohnehin verwehrt:
Sie sind in Behindertenwerkstätten beschäftigt und arbeiten für ein
Entgelt weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn, im Jahr 2016 waren
es durchschnittlich etwa 180 Euro. Pro Monat. Dass Menschen mit
gerichtlich bestellter Betreuung bei der kommenden Europawahl
überhaupt wählen dürfen, mussten sie erst vor dem
Bundesverfassungsgericht erstreiten. Barrierefreiheit ist bislang
weder in den Städten noch im Internet eine Selbstverständlichkeit,
und Gebärdendolmetscher findet man im deutschen Fernsehen nur in
Spartenprogrammen. Integration ist kein Selbstläufer, sie muss
erarbeitet werden. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn es
gelingt, die differenzierte Förderung und Anerkennung, die Menschen
mit Behinderung bislang in Förderschulen und Behindertenwerkstätten
zuteil wird, auch an regulären Schulen und Arbeitsplätzen zur
Normalität werden zu lassen. Und dazu gehört selbstverständlich auch,
Angehörige dabei zu unterstützen, das Leben mit ihren behinderten
Kindern oder Eltern so unkompliziert wie möglich zu gestalten.
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