Westdeutsche Zeitung: Der Präsident erfüllt nur teilweise die Erwartungen - Sachlich und ein wenig zukunftsweisend Von Martin Vogler =
Geschrieben am 03-10-2010 |
Düsseldorf (ots) - Wir warteten auf die erste große Rede des
jungen Präsidenten. Doch großartig geriet sie nicht, wahrscheinlich
wird sich bald keiner mehr an sie erinnern. Aber wenigstens verdient
das, was Wulff zum 3. Oktober sagte, das Prädikat angemessen.
Immerhin schaffte er es - was auch wohltuend bei den anderen
Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Vereinigung auffiel - auf
übertriebenes Pathos zu verzichten. Er lobte pflichtgemäß die
Aufbauleistungen der Ostdeutschen und den heutigen unverkrampften
Patriotismus, der in Deutschland Einzug gehalten hat. Mit Letzterem
liegt er goldrichtig. Wenn man sich erinnert, dass während des
Einheitstaumels viele das heftige Schwenken von schwarz-rot-goldenen
Fahnen irritierend fanden, ist es wohltuend, dass sich bei uns ein
ähnlich entspannter Umgang mit nationalen Fragen wie in anderen
Ländern durchgesetzt hat.
Das wirklich Wegweisende an Wulffs Ansprache war: Er verwendete
die gefallene Mauer nur als Einstieg, um eine neue Trennung in der
Gesellschaft anzusprechen - die zwischen Deutschen und Immigranten.
Ohne dass der Präsident den Namen Sarrazin erwähnte, nahm er die
durch das vieldiskutierte Buch heftig gewordene Integrations-Debatte
auf. Sinnvoll war, dass er versuchte, falsche Konfrontationen zu
vermeiden und dabei dämpfend auf das derzeit alles dominierende
gesellschaftliche Thema einzuwirken. Angesichts der aufgeheizten
Stimmung war es sicherlich richtig, wie Wulff betonte, Präsident
aller Menschen, die in Deutschland leben, zu sein. Ob allerdings die
Mehrheit der Einheimischen seiner Einschätzung folgt, dass neben
Christentum und Judentum mittlerweile auch der Islam ganz
selbstverständlich zu Deutschland gehöre, kann man bezweifeln. Denn
die wichtige Frage der gegenseitigen Toleranz ist damit leider nicht
beantwortet.
Doch insgesamt kann man die Feierlichkeiten zum 3. Oktober positiv
werten. Sie waren weitgehend friedlich, sachlich und dank Wulffs
Integrations-Impuls sogar ein wenig zukunftsweisend. Noch weiter nach
vorne gedacht wäre jedoch die selten gestellte Frage, wann das
vereinte Deutschland Normalität ist. Antwort: Spätestens dann, wenn
wir keinen speziellen Feiertag mehr benötigen und den
Solidaritätszuschlag abgeschafft haben.
Originaltext: Westdeutsche Zeitung
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