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WAZ: 100 Tage Bundesregierung - Die Stunde der Pragmatiker - Leitartikel von Walter Bau

Geschrieben am 03-02-2010

Essen (ots) - Wer Visionen hat, spottete einst Alt-Kanzler Helmut
Schmidt, der sollte besser zum Arzt gehen. Schmidt, der hanseatische
Preuße, war ein Handwerker der Macht, der Ideologie verabscheute -
einer freilich, der sein Handwerk verstand. Kaum ein Politiker
handelte so konsequent nach dem Motto, wonach Politik die Kunst des
Machbaren ist. Und wie sieht es heute aus in Berlin?
Visionen vermitteln die Koalitionäre von Union und FDP, die heute
seit hundert Tagen regieren, nicht. Dies ist auch nicht das Problem.
Denn angesichts einer Rekordverschuldung, die den
Gestaltungsmöglichkeiten enge Grenzen setzt, wären mehr denn je
Pragmatiker der Macht gefragt, die drängende Probleme ohne politische
Scheuklappen angehen. Stattdessen aber lähmen sich Union und FDP
gegenseitig - mit einer Mischung aus Klientelpolitik,
machtpolitischen Grabenkämpfen und Unfähigkeit zur klaren
Entscheidung.
Stichwort Klientelpolitik: Die FDP boxt ein Steuergeschenk für
Hoteliers durch, obwohl dies außer den Hoteliers kaum einer
nachvollziehen kann. Oder, jüngstes Beispiel: Liberalen-Chef
Westerwelle mosert gegen den Ankauf der CD mit Daten wohlhabender
Steuerflüchtlinge und nimmt dafür sogar den offenen Dissens mit der
Kanzlerin in Kauf.
Stichwort Grabenkämpfe: Roland Koch torpediert aus Hessen die
Jobcenter-Pläne seiner Partei-Kollegin Ursula von der Leyen. Oder:
FDP-General Lindner stänkert in der Debatte um die Gesundheitsreform
gegen CSU-Mann Söder, der müsse sich entscheiden, "ob er Teil des
Problems oder der Lösung sein will".
Stichwort Entscheidungsunfähigkeit: Das leidige Gezerre um den Sitz
von Erika Steinbach in der Vertriebenen-Stiftung geht nun schon seit
Monaten. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das gleiche gilt für den Streit
zwischen CSU und FDP um die Kopfpauschale. In allen drei Punkten
ließe sich die Liste fortsetzen.
Statt an den Problemen, arbeiten sich die Regierungsparteien
aneinander ab. Die Kanzlerin hat nicht die Kraft, ihre Leute zur
Ordnung zu rufen. Merkels Nimbus der über dem Klein-Klein stehenden
Präsidial-Regentin bröckelt zusehends, glänzende Auftritte auf
internationalem Parkett können ihre Führungsschwächen nicht mehr
überstrahlen. Und ihr Vize, FDP-Chef Westerwelle, betet das Mantra
von großzügigen Steuererleichterungen, als lebte er in einer
Parallelwelt. Die schwarz-gelben Wunschpartner sind schneller in der
Realität angekommen als erwartet. Besinnen sie sich nicht schnell auf
eine solide Politik, wird sie der Wähler abstrafen. Als erstes im Mai
in NRW. Um dies zu prophezeien, muss man kein Visionär sein.

Originaltext: Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/55903
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_55903.rss2

Pressekontakt:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de


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